Taubenflug zwischen Zeiten und Kulturen, über Grenzen hinweg
Man braucht einen langen Atem, wenn man dem Roman von Melinda Nadj Abonji von Anfang bis Ende aufmerksam folgen will. Fast ohne Pause sprudelt hier das Leben gleich mehrerer Generationen nacheinander, durcheinander und nebeneiander im Strom der Zeit. Nachzulesen und nachzuempfinden in "Tauben fliegen auf", das Leben ähnlich dem der Tauben, Rast ist nicht vergönnt, aufgescheucht, verdrängt, vergrault, hin und wieder auch gefüttert.
Am Freitag setzte der Hoyerswerdaer Kunstverein die Grenzgänge®, die Hoyerswerdaer Gespräche im Schloss mit Melinda Nadj Abonji fort.
Melinda Nadj Abonji wurde geboren in der Vojvodina, einer autonomen Provinz im heutigen Serbien, die ehemals zu Jugoslawien gehörte, eine Region mit einer seit Jahrhunderten geprägten Völkergemeinschaft von Ungarn, Serben, Kroaten, Slowaken, Rumänen, Deutschen, Roma und vielen weiteren. Die Herrscher wechselten, die Völker blieben. Melinda Nadj Abonji selbst stammt aus einer ungarischen Familie. Ihr heutiger Wohnsitz ist Zürich in der Schweiz, wo sie vom fünften Lebensjahr an lebte, dort lernte, arbeitete und studierte, Schriftstellerin wurde und Musikerin. Der Vater hatte aus Frust über die Willkür von Enteignung und Diktatur im Staate Titos das Land verlassen, Melinda und ihre Geschwister werden vorübergehend von der Großmutter, der Mamika betreut. Diese wird zum Inbegriff von Heimat, Zugehörigkeit und Wärme. Die Jahre, in denen die Familie Abonji in der Schweiz eine neue Heimat zu finden hofft, der Zerfall von Jugoslawien und die Jugoslawienkriege bilden den ergreifenden Hintergrund des Geschehens.
Mirko Schwanitz, der umtriebige Literaturjournalist, hatte die Lesung mit Melinda Nadj Abonji gut vorbereitet, indem er die Leseabschnitte den Themen Ausländer, Heimat und Gründe zum Verlassen von Heimat und ethnischer Herkunft zuordnete.
Melinda Nadj Abonji liest diese ihre Texte fast selbstvergessen und innig, die deutsche Sprache in vollendeter poetischer Diktion. Die Zuhörer werden eingenommen und mitgenommen und erleben neben dem Deutschen die Sprache der Ungarn, das Schwizerdütsch und Hören vom Leid der Völker auf dem Balkan: Familie Kocsis führt in Zürich nunmehr ein eigenes Café, das Mondial. der Weg dahin war schwieriger als gedacht, zuerst reist der Vater aus Jugoslawien aus und arbeitet als Schwarzarbeiter in einer Metzgerei, holt später seine Frau Rózsa nach und noch später die Töchter Nomi und Ildiko. Trotz übermenschlicher Anstrengungen bleibt die Familie ein Fremdkörper im Bewusstsein der Schweizer. Die Schweiz ist ein Besitz der Schweizer, wer hierherkommt, muss sich dem Besitzenden unterordnen und hat sich anzupassen, das typische Schicksal aller, die irgendwann ihre Heimat verlassen mussten oder verlassen haben. Die Szenen, in denen Demütigungen und Beleidigungen vielsagend hintergründig ausgesprochen werden, sind genial gestaltet, die Vorgänger in dem Café haben den Kaffe stärker serviert und die Portionen größer, die Toiletten sauberer gehalten, zum Beweis werden diese mutwillig mit Fäkalien verschmutzt. Nur einige Gäste erkennen an, dass heute in dem Mondial Selbstgebackenes und Selbstgekochtes angeboten wird und alles peinlich sauber ist. Beim Vorgänger wurde aus der "Dose gekocht", aber es waren eben Schweizer.
Dieses Schicksal aller Menschen, die irgendwann, irgendwo einmal Ausländer waren und sind, ist aktuell wie kaum ein anderes Thema heute in Europa. Hinzu kommt der Neid auf Erfolg, ein Ausländer sollte zwar leben können, aber reich werden, das nicht und er soll und muss sich anpassen, anpassen bis zum Verlust des eigenen Wesens. Das dafür allgemein gebrauchte Wort Identität ist ein Reizwort für Melinda Nadj Abonji, denn kein Mensch ist identisch mit einem anderen und keiner gibt dem Einen das Recht von einem Anderen Anpassung bis zur Selbstaufgabe einzufordern.
Mit freundlicher Genehmigung von Sächsische Zeitung, Hoyerswerdaer Tageblatt
Der Schriftsteller und Philosoph Sreten Ugricic, von Melinda Nadj Abonji und Mirko Schwanitz gleichermaßen verehrt, hat zum Thema "Das Leben ist Ausland" eine Menge zu sagen, vielleicht gelingt es Mirko Schwanitz, auch ihn zu einem Gespräch nach Hoyerswerda zu verlocken.