Das halbseitig gelähmte Gedächtnis Europas
Lesung und Gespräch mit Mirko Schwanitz zu dem österreichischen Schriftsteller Martin Pollack (*1944) im Rahmen der Hoyerswerdaer Gespräche 2015, Grenzgänge ®, die von der Robert-Bosch-Stiftung unterstützt werden.
Wer kennt noch Galizien oder die Bukowina, beide bis 1918 Kronländer der Österreichisch - Ungarischen Monarchie? Selbst die heute dort Lebenden können die vielen Herrschaftszugehörigkeiten ihrer Heimat kaum auseinander halten. Seit 1918 ist Galizien von der Landkarte Europas verschwunden, die Bukowina seit 1945. Galizien gehört heute zu Polen und zur Ukraine, die Bukowina zu Rumänien und ein Teil ebenfalls zur Ukraine.
Martin Pollack, österreichischer Journalist, der die Geschichte Osteuropas zu seinem Thema machte, folgt in mehreren Büchern akribisch genau den Spuren der Bewohner dieser Gebiete, in denen Polen, Juden, Deutsche, Rumänen, Ruthenen, die sich heute Ukrainer nennen und Zigeuner auf engstem Raum zusammen lebten. Des weiteren viele kleinere Völkchen, deren Namen kaum noch einer kennt. Er will damit dem Gedächtnis Europas auf die Sprünge helfen, das an der Grenze zu Osteuropa endet. Den Satz des "halbseitigen gelähmten Gedächtnisses Europas" prägte der spanische Schriftsteller Jorge Semprun, der als Kommunist Buchenwald über erlebte und später die Lager Stalins auf Schärfste verurteilte.
Martin Pollack übernimmt dieses Motiv für sich. Er wollte nach Hoyerswerda kommen und seine Bücher selbst vorstellen: "Galizien, eine Reise durch die verschwundene Welt Ostgaliziens und der Bukowina" und "Der Kaiser von Amerika". Leider war er kurzfristig durch Krankheit verhindert und versprach einen erneuten Anlauf für das zweite Halbjahr 2015. Das Publikum war etwas enttäuscht, denn viele, sehr viele waren gekommen, um Matin Pollack persönlich zu erleben.
Mirko Schwanitz bot nun notgedrungen mehr als Ersatz, er moderierte und las professionell und verzauberte die Zuhörer mit den Texten Pollacks und mit seinem eigenen Wissen um den Dichter, um die Landschaften Galizien und der Bukowina und um die Geschichte der Schifffahrtsgesellschaften, die unzähligen Auswanderen um 1900 den "Kaiser von Amerika" als Herrscher der Vereinigten Staaten von Amerika vorgaukeln konnten, der auf sie warte und sie in seinem Land mit Wohlstand beschenken werde. Tausende und Abertausende zahlten mit ihrem vom Mund Abgesparten einen hohen Preis, reisten gen Amerika, füllten die Kassen der Reedereien reichlich und erlebten ebenso reichlich Enttäuschung.
Da Galizien als Armenhaus der K. und K. Monarchie galt, war die Anwerbung von Auswanderern ein Leichtes in Städten wie Przemysl, Drohobycz, Stryj, Czernowitz, Brody oder Lemberg, wer kennt die Namen?
Die Beamten der Monarchie fühlen sich aus Wien verbannt und handeln entsprechend willkürlich und korrupt. Die Werbung mit dem angeblichen Kaiser von Amerika konnte deshalb besser nicht gewählt werden, denn die Völker waren Kaiser Franz Joseph I. treu ergeben, verabscheuten nur seine Beamtenschaft. Was um 1900 die Städte Galiziens mit Wien verbindet sind Café-Häuser und städtische Gebäude im Stil der Wiener Architektur, der Rest sind Hütten mit wenigen Räumen für viele Menschen und Tiere, ein Bett ist purer Luxus.
Im Gedächtnis der Nachgeborenen erhalten ist nur das, was die Literatur aufbewahrt. Martin Pollack zitiert Joseph Roth, Karl Emil Franzos, Bruno Schulz, die Czernowitzer Allgemeine Zeitung und andere. Sie alle geben Auskunft über diese Region, Texte zwischen Melancholie und Anklage, zwischen unendlicher Liebe und Abneigung. Er selbst schildert voll Wärme das Zusammenleben der verschieden Volksgruppen und ihre Motivationen, die angestammte Heimat zu verlassen und anderswo Glück zu finden, Gruppen, die wie die "Luftjuden" sprichwörtlich von der Luft leben mussten.
Zu Recht erhielt Martin Pollack 2011 den Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung, das Thema könnte aktueller nicht sein in Europa.
Mit freundlicher Genehmigung von Sächsische Zeitung, Hoyerswerdaer Tageblatt.