Vom Sandberg zum Babel
Hoyerswerdaer Kunstverein, am 09.10.2014
Dr. Wolfgang Wessig, Görlitz, mit einem Vortrag über die polnische Autorin Joanna Bator (*1968) und ihren Roman "Sandberg"
Mit Dr. Wessig schaut man immer etwas über den eigenen Tellerrand hinaus. Bei dem heutigen Vortrag des ehemaligen Theaterdramaturgen erfahren die Zuhörer im Rahmen seiner literarischen Grenzgänge Neues über die polnische Literatur unserer Tage. Damit setzt Dr. Wessig die Reihe polnischer Autoren fort, von denen bereits Czeslaw Milosz, Andrzej Stasiuk , Slawomir Mrozek, Bruno Schulz, Olga Tokarczuk, Dorota Maslowska, Tadeusz Rozewicz u.a. zu hören waren. Und der Blick über den Tellerrand lässt neidisch werden auf die Vielfalt und die Qualität der polnischen modernen Literatur.
Heute also die junge Autorin Joanna Bator. Ihr Geburtsort ist die polnische Bergbaustadt Walbrych (Waldenburg). Zur Zeit arbeitet die studierte Philosophin und Kulturwissenschaftlerin als Gastprofessorin an der Universität Bern, ausgezeichnet mit vielen internationalen Preisen. In den Buchläden ist schon einiges von ihr zu finden. Ins Deutsche übersetzt allerdings wurden nur "Sandberg" und "Wolkenfern". Übersetzerin ist eine Autorin aus Deutschland, Esther Kinsky, welche dichterisch feinfühlig sicherlich die gleiche Atmosphäre übermittelt, die dem Originaltext innewohnt, nach Kinskys Worten in einer distanzierten Ironie, ohne Zynismus.
Von Joanna Bator werden in dem Roman "Sandberg" die Lebenswege einer polnischen Familie lebendig erzählt, die ursprünglich im Osten Polens ansässig ist, 1945 nach Schlesien umgesiedelt wird, den Sozialismus erlebt und die anschließende Wende. Bei Iris Radisch ist zu lesen, dass die hochintelligente, unruhige Schriftstellerin Joanna Bator das Buch in Japan schrieb, im Angesicht des Fudschijama, nachdem sie zum ersten Mal in ihrem Leben zur Ruhe kam und das Leben wieder zu fließen begann. Im Mittelpunkt der Handlung stehen Mutter Jadzia und Tochter Dominika, sie leben in der Provinz in Walbrych, in einem wuseligen weiblichen Universum, in dem noch zwei Großmütter vorkommen, die Männer aber bis zur Bedeutungslosigkeit im Fernsehsessel verschwinden.
In leicht dahin plätschernden Sätzen erzählt Joanna Bator sehr emotionale Empfindungen der Familie, als sie nach Walbrych umgesiedelt wird, da man in fremden Betten schläft und von fremden Tellern isst und ein Leben mit den Phantomen der vorherigen Bewohner führt. Der Braunkohleabbau prägt die Stadt und die Menschen, die aus allen Regionen des Landes kommen. Am Rand der Stadt ein Sandberg, der nun mit einem 11-geschossigen Hochhaus mit neun Eingängen bebaut wird, der Sandberg wurde dafür geköpft wie ein gekochtes Ei. Als Bürger von Hoyerswerda Neustadt kann man die anfängliche Euphorie in den neuen Wohnungen fast körperlich nachempfinden und die Erwartung der Einwohner nach einer intakten Gemeinschaft, die sich als irrige Annahme herausstellt. Die idyllische Dachterrasse für alle bleibt am Ende allein den Selbstmördern. Ehemann und Vater Stefan wird in unzähligen Wiederholungen die Geschichte erzählen, wie er seine Frau Jadzina beim Sturz an einer Treppe kennen lernte und Tochter Dominika die ewige Aufforderung der Mutter hören, nicht so zu rennen. Die Grünflächen vor der Haustür werden zur Hundewiese. Das Wohnhaus wird zum "Babel".
Jahre später, nach der Wende, hatte Babel ausgedient, Die Bergwerkstollen wurden geflutet, jeder erhielt nun ein Telefon, aber im Treppenhaus brennt kein Licht, es ist schmutzig und eklig. Der Supermarkt wird zum Kulturersatz, denn damals, als es weniger gab, hat uns weniger gefehlt als heute, ist das Fazit der Mutter.
Tochter Dominika ist längst in der ganzen Welt unterwegs, der Vater nicht mehr am Leben und nun soll die Mutter ihr "Storchennest" verlassen und mit der Tochter mitkommen, die in fremden Sprachen telefoniert und in fremdartigen Kleidern einhergeht, ein langer Weg bis dahin.
Man könnte das Buch ganz gern in voller Länge von Dr. Wessig gelesen hören, denn der leicht ironische Ton erklingt beim Zuhören spannender als beim Selbstlesen. Ein Fortsetzung der Erzählkunst von Joanna Bator ist in dem Roman "Wolkenfern" zu erleben, wobei sie nun die übrige Welt mit vielen liebenswerten Figuren bevölkert, die polnische Provinz mit Walbrych jedoch immer wieder reflektiert.