„Drei Schritte nach Russland“
Seit nunmehr vierzehn Jahren entdeckt Dr. Wolfgang Wessig, Kultur- und Theaterwissenschaftler aus Görlitz, seinen Zuhörern vom Hoyerswerdaer Kunstverein in seiner Reihe „Grenzgänge“ immer neue Autoren und deren Bücher. Bei jeweils vier Vorträgen jährlich entdeckte er am Hoyerswerdaer Kamin mehr als 50 Autoren zuerst aus Polen, dann aus Tschechien, aus der Sowjetunion und Russland, Georgien, den Nachfolgestaaten des Vielvölkerstaats Österreich-Ungarn, und natürlich aus verschiedenen Regionen Deutschlands im 19. Und 20.Jahrhundert. Jede dieser Begegnungen wird bestimmt von einer gedanklich stets in sich geschlossenen Lesung, die den geübten Dramaturgen eines Theaters erkennen lässt, und einer kurzen Einleitung zu Leben, Zeit und Werk des Autors/ der Autorin.
Die Zuhörer haben den Vorteil, eine Erzählung ganz, einen Roman in geschickter Auswahl, gelegentlich auch mehrere kurze Texte in brillanter Lesung zu hören. Sie können sich danach selbst ein Bild vom Anliegen des Künstlers machen, greifen oft auch mit Freude zu dem einen oder anderen Buch, von dem zu hören war.
Das jüngste Literaturgespräch galt dem Buch „Drei Schritte nach Russland“ der Berliner Autorin Irina Liebmann. Sie, die bereits mehrfach ein gern gesehener Gast in dem Kreis war und Hoyerswerda die freundlich anregende Reportage „In Hoyerswerda im Kreis gefahren“ widmete, erzählt in dem neuesten von drei Besuchen in ihrem Geburtsland und versucht die dort unter den Bürgern herrschende Atmosphäre zu erkunden, ohne aufdringlich zu ihren Gastgebern und Freunden zu sein.
Die 1943 in Moskau geborene Tochter einer Russin aus Sibirien und eines deutschen Vaters, Rudolf Herrnstadt, erkennt eines Tages nach 1990: „Russland, das Land, das sich einmal die Errichtung einer neuen Welt vorgenommen hatte und nun in den Trümmerstücken davon allein dasteht… Russland, das Land meiner Mutter, und als sie gestorben war, bin ich hingefahren…Ich wollte wissen, was Russland ist. Ich kenne die Sowjetunion“. Diese Frage überraschte nicht nur die reisefreudigen Zuhörer, sondern nahm alle gefangen, da viele die Öffnung nach Westen für Reisen bevorzugt hatten, dennoch das Staunen über jenes große, in vielen Gewohnheiten anders lebende Land und seine Völker nicht vergessen können. Dr. Wessig stellte ein sehr persönliches erzähltes Buch vor, denn Irina Liebmann besuchte nur alte Bekannte, lernte das teils schwierige und teils auf geschickte Weise bewältigte Leben in den großen wie den kleinen Städten des Umlandes der Hauptstadt kennen. Sie lebte in den Wohnungen Moskaus mit, in den Datschen, bestaunte das eigenständige Bauen von letzteren und den Eifer junger Leute, die großenteils von den Mütter lernen, ihr Leben zu gestalten. Freundlich, eben als Gast, beschreibt sie das Leben ihrer Freundinnen, ohne gesondert darauf hinzuweisen wie schwierig dieses im Vergleich zu unserem in Deutschland ist. Sie bewundert ihre Gastgeberinnen, wie sie den Wandel seit 1992 bewältigen, wie sie ihr Leben gestalten und erhält auf ihre Frage:„Warum sterben die Männer so jung?“ keine Antwort.
Es gäbe „ein dröhnendes Verstummen seit 20 Jahren“ bei uns und bei ihren Gastgebern, beobachtet sie. Aber sie freut sich an der Moskauer Metro, in der es immer noch heißt: „Achtung--- Die Türen schließen selbstständig! ---Verehrte Fahrgäste! Machen Sie Plätze frei für Behinderte, alte Leute und hilflose Personen! ---„.
Irina Liebmann baut mir ihrem Buch Brücken, damit dieses Russland in Westeuropa nicht aus den Augen verloren wird. Es ist seit vielen Jahrhunderten völlig zu Recht ein wichtiges Pendant zu unserem Leben, das so leicht nervös und hektisch zu werden droht. Dr. Wolfgang Wessig vermittelte bei seinem „Grenzgang“ dieses Anliegen der Autorin einfühlsam und mit Leidenschaft.
Bildunterschriften: Dr. Wessig liest Irina Liebmann. Das Publikum dankt für jeden literarischen "Grenzgang" von Dr. Wessig herzlich und mit viel Beifall.