Schuld und die Perspektive des Anderen

Barbe Maria LinkeBarbe Maria Linke, geb. 1944, ist vielen bekannt aus der DDR-Opposition, sie war Mitbegründerin der Gruppe "Frauen für den Frieden" ehe sie 1983 nach Westberlin ausreiste. Aber sie ist auch Schriftstellerin.
Ihren ersten Roman "Moses - ein Experiment", erlebte der Hoyerswerdaer Kunstverein als Premiere. Dietmar Linke begleitete die Lesung musikalisch.

Bis zu ihrer Ausreise 1983 betreute Barbe Maria Linke gemeinsam mit ihrem Mann Pfarrstellen in Brandenburg und Berlin und sie ist Mutter von drei Kindern. Sie hatte das Glück, dass sie in Wiepersdorf und in Neuenhagen namhafte Künstler erleben konnte. In Wiepersdorf, im ehemaligen Schloss von Achim und Bettina von Arnim, waren das neben anderen Christa Wolf, Volker Braun, Maxi und Fred Wander. In Neuenhagen entstand eine lange währende Freundschaft mit Stephan Heym.
1993 aber beginnt sie selbst, Gedichte und kleine Essays zu schreiben. Sie erzählt auf eine sehr feinfühlige Weise über Menschen im Umgang miteinander, oft eingebettet in sensible Beschreibungen der Natur.
In ihrem ersten Roman wird das Experiment Mensch im Schöpfungsplan erforscht. Sie holt weit aus, lässt einleitend Moses die Geschichte aus dem Alten Testament als Ich-Erzähler repetieren, die Barbe Maria und Dietmar LinkeGeschichte des Moses, der von einer Pharaonentochter aufgezogen wird, der die zehn Gebote des einen Gottes auf dem Berg Horeb empfängt und der das Volk Israel aus Ägypten in das Gelobte Land führt. Moses, dem ein Mord das Gewissen belastet, der Mord an einem ägyptischen Sklavenaufseher.
In einem Flugzeug treffen wir Moses wieder, auf einem Flug nach Bern, auf dem Nachbarplatz eine junge Frau, namens Kati. Von ihr wird er all die Begriffe lernen, die im fremd sind: Journalistin, Flugzeug, Laptop, Krise im Libanon, Lebensmittel, die er nicht kennt. Von Anfang an sind beide einander auf seltsame Weise vertraut.
Barbe Maria Linke verwebt in weiterer Folge die Geschichte des Moses mit der Geschichte von Schuld und Holocaust, Bespitzelung und Verrat im Namen einer sozialistischen Idee, Krieg und Gewalt in allen Ländern der Erde, in verschiedenen Ebenen miteinander, so, dass die Gegenwart auch immer Vergangenheit beinhaltet. Die Erfahrungen der Menschen des Alten Testamentes sind nicht anders als die unseren heute. "Denn das Böse ist ein Teil von uns, nur eine hauchdünne Linie ist es, die uns vor uns selbst schützt."
Sie lässt Hannah Ahrendt zu Wort kommen, die zum eigenen Denken auffordert und es nicht im Wiederholen der Anklage belässt, die versucht, die Perspektive der anderen einzunehmen.
Und genau das, die Perspektive der anderen wird Barbe Maria Linke wichtig, Moses versetzt sich in die Lage der Familie dessen, den er ermordet hat, Kati in die Lage ihres Vaters in Berlin, der ein Stasi-Offizier war. Schuld aus dieser Sicht wird eine andere, eine menschliche, eine, die nicht auf alle Fragen eine Antwort hat. Nur das "denkende Herz" kann in dieser Situation unvoreingenommen agieren. Aber wer von uns kann das schon? Hätten wir in anderen Lebenssituationen Aufseher in einem KZ werden können, wären wir dem Mainstream gefolgt und hätten die Judenvernichtung befürwortet? Wären wir unter bestimmten Umständen zu einem Mord fähig?
Die Antwort von Barbe Maria Linke: Du kannst nur lieben. Lieben ist genug.

Bilder: Barbe Maria Linke und Dietmar Linke 2014 in Hoyerswerda

Mit freundlicher Genehmigung von Sächsische Zeitung, Hoyerswerdaer Tageblatt.