Geistesblitze im Rausch 

Ein Abend mit Uwe Jordan, Redakteur der Sächsischen Zeitung, Hoyerswerdaer Tageblatt, zu Wenedikt Jerofejews Poem: Die Reise nach Petuschki

Uwe Jordan mit den Utensilien des Trinkers Wenitschka, dem Köfferchen, den Pralinen für die Freundin und dem Alkoholischen für die ReiseMan muss sich lange durch ein Alkoholmeer hindurch trinken, um nicht zu sagen hindurch saufen, um am anderen Ufer an die Schätze eines Schriftstellers zu gelangen, der vor allem eins war, ein gebildeter, sensibler, von Sorge um sein Land geplagter Dichter mit "Weltschmerz im Herzen", der sich als Philosoph erweist.
Uwe Jordan unternimmt diese Gratwanderung und erinnert an den russischen Schriftsteller Wenedikt Jerofejew (1938-1990), der vor 75 Jahren in Kirowsk geboren wurde und an Kehlkopfkrebs in Moskau starb.
Das Poem "Die Reise nach Petuschki", geschrieben 1969, erzählt von dem Trinker Wenitschka, der auf einer Reise von Moskau nach Petuschki seine Weltsicht grotesk und intelligent darlegt, darlegt zwischen Sherry, Wein und Wodka und zum Schluss nicht ankommt in Petuschki, sondern wieder auf dem Kursker Bahnhof in Moskau landet, wo die vermeintlichen Schutzengel zu Häschern werden und ihn zu Tode quälen und Gott dabei zusieht und schweigt.
Uwe Jordan macht neugierig auf einen Dichter, der hierzulande fast unbekannt ist, der wie kaum ein anderer den realen sowjetischen Sozialismus anprangert. Er liest vorrangig Monologe aus dem Poem, gekonnt und mit wunderbarer Dramatik. Eine Szene vor Beginn der Reise am Kursker Bahnhof, wo man Wenitschka den Cherry verweigert, erheitert ebenso wie die empfohlenen Cocktailmischungen aus Alkohol, diversen Parfümen und Reinigungsmitteln, deren Wirkung intelligent kommentiert wird. Und Uwe Jordan hat wie Wenitschka ein Köfferchen dabei, das Schätze enthält, die Pralinen für die Freundin, die ihn in Petuschki erwartet und eine Menge Alkoholisches für unterwegs. Beeindruckend gelesen auch die genial groteske Szene, in der Wenitschka von der wegen Trunkenheit verlorenen Stelle als Brigadier erzählt, obwohl die monatlichen Verpflichtungen im sozialistischen Wettbewerb akribisch erfüllt wurden.
Doch was ist weiter in dem Poem zu lesen?
Warum trinkt der russische Bürger, warum ist er in der Welt so wenig anerkannt, obwohl er die Welt und seine Dichter kennt, wie kein anderer? Auf dieser Suche des Wenitschka werden Wahrheiten auf engsten Raum verdichtet, Wahrheiten, die der Dichter nicht endgültig erschließen kann, aber "immerhin so nahe herankommt, dass er sie bequem betrachten kann", die plötzlich aufleuchten, dann aber sofort vom nächsten Trinkerexzess abgelöst werden. Manches Mal genügt nur ein Satz, des Öfteren sogar ein halber Satz, um Nachdenken und Meditieren für eine große Geschichte in Gang zu setzen. In seinem Rausch wird Wenitschka gegen alle Vernunft von Italien nach Frankreich reisen, den Rubikon überschreiten, an Canossa vorbeikommen, von Verdun über den Ärmelkanal nach London reisen, um zum Direktor des Britischen Museums zu gelangen. Real nicht möglich, nur im Wissen sind diese Orte der Weltgeschichte für den russischen Bürger ein Begriff. Und dann noch der Geheimrat Goethe, er taucht gleich mehrfach auf. Hat er getrunken oder hat er nur stellvertretend seine Protagonisten trinken lassen? War er dem Selbstmord selbst nahe und hat deshalb den Werther für sich sterben lassen? Man sieht, viel Spannendes erwartet den Leser auch sonst noch, wenn von Immanuel Kant die Rede sein wird, von Maxim Gorki und von einer Revolution mit wunderlichen Thesen und abstrusen Dekreten, beschämend in ihrer Trivialität, die es nicht nur in der russischen Gesellschaft gibt.

Ankündigung des Abends in der Sächsischen Zeitung vom 02.10.2013 

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