Gesamteuropäische Gedächtniskultur - eine Teufelswerkstatt?

Dr. Wolfgang Wessig

Literaturkritiker entscheiden sehr häufig über das Wohl und Wehe eines Autors und den Erfolg seiner Werke. Nicht so bei Dr. Wolfgang Wessig. Er will das Gegenteil bewirken, Schriftsteller dem Vergessen entreißen und weniger bekannte Schriftsteller bekannt machen, Schriftsteller allerdings mit einem hohen Anspruch an Thematik und Sprache. Seit vielen Jahren stellt er deshalb in seiner Reihe "Grenzgänge" Literatur aus Polen, Tschechien und der Ukraine vor, und solche, die im weitesten Sinn etwas mit Görlitz zu tun haben. Bei vielen von ihnen ist der Holocaust ein wichtiges Thema. So auch bei dem tschechischen Autor Jachym Topol, der 1962 in Prag geboren wurde und inzwischen ein in der Welt anerkannter Schriftsteller ist und bereits in viele Sprachen übersetzt wurde. Sein Œvre umfasst neben anderen die Romane: "Die Schwester", "Nachtarbeit", "Zirkuszone", "Die Teufelswerkstatt", "Durch ein kaltes Land" und mehrere Bände zweisprachiger Gedichte.
An diesem Abend liest Dr. Wolfgang Wessig aus Jachym Topols "Teufelswerkstatt" und macht sehr bühnengerecht auf diesen Dichter neugierig. Hauptanliegen diese Buches ist der Umgang mit dem Holocaust heute. Der Ich-Erzähler wohnt in Theresienstadt, abseits der Touristenwege. Hier lebt auch Lebo, ein Holocaust-Überlebender. Mit diesem gemeinsam versuchen nun junge Leute dem Kommerz des Erinnerns in Theresienstadt entgegen zu wirken. Zu ihnen gehören auch die so genannten "Pritschensucher", die aus allen Ländern kommen und nach Spuren ihrer ermordeten Verwandten nicht in der Gedenkstätte, sondern in den alten Kasematten suchen. Gewöhnliche Touristen wandeln auf den Todespfaden wie durch eine mittelalterliche Burg, machen Fotos und verschwinden wieder. Diese jungen Leute aber wollen das nicht hinnehmen. "Wir stehen hier an einem Abgrund, in einer Welt ohne Gnade, in der alles möglich war. Wenn das hier geschehen konnte, kann es überall auf der Welt wieder geschehen!" Wie aber soll das Erinnern geschehen? Sie versuchen, ihre Vorstellungen in einem eigenen Projekt zu gestalten. Und sie müssen feststellen, auch dazu braucht man Geld und reiche Gönner. T-hirts mit der Aufschrift: Hätte Kafka seinen Tod überlebt, hätte man ihn hier umgebracht, eine Ghetto-Pizza und Gespräche mit Lebo sollen nun ihrerseits für das richtige Gedenken sorgen. Sie schaffen in Theresienstadt eine Gegenwelt des Erinnerns, die dann durch das Eingreifen der Behörden offiziell verboten wird. 
Der Erzähler muss fliehen und landet in Chatyn, in Weißrussland, in der Nähe von Minsk. Chatyn, der Ort, der 1943 von Mitgliedern der deutschen SS dem Erdboden gleich gemacht wurde, von dem nur drei der Dorfbewohner überleben konnten. Hier soll der Erzähler helfen, einen Park des Grauens zu gestalten, eine Teufelswerkstatt, wo auf den Besucher der ganz besondere Kick wartet.
Topol beschreibt diese paradoxen Formen des Erinnerungs in einer außerordentlich modernen und gleichzeitig sehr genauen Sprache, die die Übersetzerin, Eva Profousová, erstaunlich gut überträgt. Ist es überhaupt möglich, den Getöteten, Vergasten, Geächteten, Verscharrten gerecht zu werden? Möglicherweise kann das nur die Literatur leisten, indem als Erzählform die Groteske gewählt wird, weil es sonst nicht zu ertragen wäre.