Zu den Wurzeln heute populärer Musik

Günther Gammer 2013 in Hoyerswerda„Musik ist Völkerverständigung pur“, bestimmte den Vortrag von Günther Gammer, einem gebürtigen Wiener, der bei BASF in Schwarzheide arbeitet und am Donnerstag beim Kunstverein im Klubkeller des Schlosses Hoyerswerda über die Wurzeln und die Entstehung des amerikanischen Jazz sprach. Bei seinem Vortrag „Von Chicago nach New Orleans“ besuchte der Jazz-Liebhaber die Geburtsstätten des modernen Jazz und dessen vielfachen Formen, die die Welt eroberten. Mit wenigen, fürs Thema wichtigen Daten markierte er diese Geschichte zwischen der Besiedelung Nord-Amerikas, die Entwicklung eigener Wirtschaft – in der Landwirtschaft durch Sklavenhandel aus Afrika seit dem Ende des 18.Jahrhundert – dem Bürgerkrieg und der Gründung der Vereinigten Staaten von Nordamerika. Locker bereichert durch Anekdoten, Lebensläufe oft tragischer Art, Not und der Leidenschaft zum Musizieren beschrieb der anerkannte Finanzfachmann diesen Weg . Die Wurzeln des Jazz liegen in afrikanischer Volksmusik, in Form des Gospelsongs, der Spirituals als Kirchengesang der afrikanischen Sklaven und in deren Arbeitsliedern. Die Zahl der versklavten Afrikaner hatte sich zwischen 1783 und 1865 von einer halben Million auf 4 Millionen Menschen erhöht. Günther Gammer theoretisierte nicht, gebrauchte keine musikgeschichtlichen Begriffe, sondern erzählte vom Dialog zwischen Trompete als Melodieinstrument und der Klarinette, die die Antwort improvisierte, einem Zeigespräch, dem sich Posaune, Schlagzeug, Rhythmus- und andere Instrumente anschlossen. Anfangs gab es keine Noten, die Musiker folgten dem Klang ihrer Herzen und deren Echo. Gelungene Fotos vermittelten nicht nur einen Eindruck von den Riesenstädten, den Autostraßen, die schnurgerade, in scheinbar unendliche, leere Weite führten. Von den Gastwirtschaften ärmster Ausstattung, in denen die Musik entstand, untersetzt mit Porträts und kurzweiligen, jedoch beeindruckenden Biographien der bis heute weltweit bewunderten Jazz-Musiker schwarzer Hautfarbe, denen später weiße Instrumentalisten und Sänger folgten. Der Spaß, die Freude am Musizieren teilte sich mit. Der Referent - so ruhig er erzählte - folgte innerlich dem Rhythmus, dem Feuer der Melodien, mit Vortragstiteldenen er lebt. Seine Liebe zum Jazz teilte sich den Zuhörern, die den Raum bis auf den letzten Platz füllten, mit. Sie bekannten, dass sie immer noch mehr hätten hören wollen. Wie bei dieser Musik, die heute die volkstümliche Musik in Europa bestimmt, teilten sich Liebe und Leidenschaft mit. Wäre ein Instrument zur Hand gewesen oder eine Mundharmonika, die die Gründer das Jazz liebten, gewiss hätten die Zuhörer mitgesungen und sich mit einander daran erfreut. Damit hätte sich ein Kernsatz der Begegnung mit dem Jazz bewahrheitet, dass seine Dynamik, die Improvisationen der Einsamkeit der Herzen entspringen, der Sehnsucht nach Gemeinschaft in Gesang und Tanz. Daraus schöpfte auch dieser Abend seinen unvergesslichen Zauber. Für Günther Gammer und seine Zuhörer war es eine Uraufführung besonderer Art.  

Nachtrag von Christine Neudeck
Der Vortrag von Günther Gammert erinnerte mich an einen Text, der bei Brigitte Reimann in ihrem Roman "Franziska Linkerhand" zu finden ist, ein Text zu einem Bluesspieler, den sie in der Bar der ehemahligen Gaststätte "Kastanienhof" in Hoyerswerda so oder ähnlich erlebte:
"Der Klarinettist strolchte im Halbschlaf durch die Bar und zu seiner Band zurück, und die Leute machten ihm Platz. Er konnte sich kaum auf den Beinen halten. Das Haar hing ihm in die Stirn und über die rot geäderten Augen. Er dudelte eine Weile herum, vielleicht aus Bosheit, um das gaffende Publikum zu reizen, er fing Dreiklänge aus der rauchigen Luft, drehte sich gelangweilt und schnippte sie weg, und sie flogen von seinen langen, müden Fingern auf, stiegen und zerschmolzen…
Der Klarinettist klopfte mit dem Fuß auf. Jetzt werdet ihr was erleben… Franziska drehte sich um als habe sie jemand beim Namen gerufen. Ein wunderbar reiner und tiefer Ton drang durch das Stimmengewirr, und ihr ganzer Körper antwortete mit einem nervösen Aufschrei, jajaja. Sie hob sich auf die Zehen, niemand tanzte. Die Musiker spielten routiniert, aber leise, bis die betrunkenen Hände die Melodie fanden, und dann ließen sie ihn allein weitergehen, die lange einsame Straße, auf der sie ihm nicht zu folgen wagten, die Straße der blinden Sänger, und der verlassenen jungen Frauen, die ihren Mann suchen, und die Männer, die den Regen, den Hunger, die Straße verfluchen, die mit wunden Füßen wandern, voller Angst und Hoffnung… die den Blues in ihren Schuhen haben… Er quälte sich mit zitternden Knien hügelan, den Kopf in den Nacken gebogen, und klagte jedem, der es hören wollte: Mein Haus ist leer, und manchmal scheint mir, die ganze Welt sei leer...
Trojanowicz runzelte die Stirn… Das Mädchen schien ihm plötzlich größer, ihr Gesicht knochig, heiß, voll leidenschaftlicher Hingabe. Irgend etwas in ihm sperrte sich. Nein, er legte keinen Wert darauf, Zeuge einer Verzückung zu sein, die er nicht begriff." Der Text ist im Roman Seite 359 zu finden.