Er war das beste, was wir sein können, ein Mann und ein Kind

Jürgen Israel

Lesung und Vortrag von Jürgen Israel, Berlin, über Theodor Fontane (1819-1898)
Wer liest denn heute noch Fontane? Mal abgesehen von der touristischen Vermarktung der Birne des Herrn von Ribbeck auf Ribbeck im Havelland und der Herrensitze in der Mark Brandenburg, die Fontane in seinen "Wanderungen durch die Mark Brandenburg" beschrieb. Hinlänglich bekannt, doch kaum noch gelesen, sind die großen Romanwerke Fontanes, die er erst im Alter von 50 Jahren zu schreiben beginnt: Vor dem Sturm, Schach von Wuthenow, Irrungen und Wirrungen, Stine, Frau Jenny Treibel, Effi Briest, Stechlin u.a.
Lesenswert für Jürgen Israel sind vor allem die autobiographischen Romane "Meine Kinderjahre" und "Von Zwanzig bis Dreißig", die er sorgfältig und spannend rezensierte. 
Das Leben Fontanes umfasst beinahe das gesamte 19.Jahrhundert mit seinen gewaltigen wirtschaftlichen und geistigen Veränderungen der Gesellschaft. Für Theodor Fontane gehören zur optimalen Entwicklung eines Menschen in dieser seiner Gesellschaft, dass die Kinderjahre nicht von materiellen Zwängen überschattet werden und dass das Kind in einer kulturvollen, gebildeten Atmosphäre Geborgenheit und Liebe erfährt und dass Eltern als gutes Vorbild ihre Kinder mit wenigen Zwängen erziehen. Und zur Kindheit gehören Freunde, mit denen man Abenteuer erlebt und verwegene Schlachten schlägt.
All das schildert Theodor Fontane in seinen "Kinderjahren" in Neuruppin und in Swinemünde, heute Swinoujscie. In den Jahren "Von Zwanzig bis Dreißig"des zweiten Bandes erleben wir ihn als Gymnasist, als Apothekerlehrling und Apothekergehilfen, bis zu seiner Hochzeit im Jahr 1850, der "hübschesten Hochzeit, die er mitgemacht hat". Allerdings sind in dieses Werk viele Begebenheiten aus seinem langen Leben ebenfalls eingeflossen, denn erschienen ist dieser Band erst 1898, in seinem letzten Lebensjahr. Fast alle wichtigen Figuren seiner Romane finden sich als Charaktere bereits in diesen beiden autobiographischen Romanen vorgezeichnet, sehr sensibel wahrgenommen auch die Veränderungen der Gesellschaft, von denen sie geprägt werden. Das schönste Anschauungsobjekt hierfür ist die durch Handel und Schifffahrt geprägte Kleinstadt Swinemünde, mit ihren Honoratiorenfamilien, dem Mittelstand und der ärmeren Bevölkerung - ein überschaubares Spiegelbild des Kosmos deutscher Lande, vor allem Preußens unter Friedrich Wilhelm III.  Als wichtigste Person in diesem Kaleidoskop agiert für ihn der Vater, der Begründer des Glücks der Familie, der viel Geld verdient und viel Geld ausgibt, teils verspielt und teil an die Armen verteilt, für den jeder Mensch ein Mensch ist. Er war der Abgott armer Leute. Der Vater ist außerdem ein unerschöpflicher Quell an historischen Anekdoten, die Fontane lebenslang in guter Erinnerung behält, während vieles vom Schulwissen vergessen wurde.
Die Mutter, " energisch, selbstsuchtlos und ganz Charakter, von großer Leidenschaft und mit einem hohen an Sinn für Repräsentation" gibt mit ihrem Leben ein Beispiel für die Kinder. Sie werden gar nicht nach preußischem Muster erzogen, in Wirklichkeit aber ausgezeichnet. Die Erziehung aus der Hand der Eltern liegt innen, Schule liegt draußen, glückliche Jahre voller Poesie, so das Fazit Fontanes über seine Kindheit. 
Diese Sicht hat sich Theodor Fontane bis ins hohe Alter bewahrt. In seinem Alterswerk "Stechlin" lässt er den Pastor Lorenzen am Grab des alten Stechlin, vielleicht mit Rückschau auf sein eigenes Leben, sagen: "... all das war seins, Friedfertigkeit, Barmherzigkeit und die Lauterkeit des Herzens. Er war das beste, was wir sein können, ein Mann und ein Kind..."
Warum sollte man diese Bücher von Fontane unbedingt lesen oder wieder lesen?, fragt Jürgen Israel am Schluss. Es ist die große Unvoreingenommenheit gegenüber dem Erlebten, bewegend in ihrer Schutzlosigkeit, ohne Ideologie; spannend und unterhaltsam geschrieben von einem Poeten, der uns bescheiden und selbstbewusst zugleich begegnet.

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