100 Jahre Europäische Geschichte

Irina Liebmann liest aus ihrem Buch "Wäre es schön? Es wäre schön. Mein Vater Rudolf Herrnstadt"

Irina Liebmann ist eine gute Zuhörerin sie disputiert klug und locker mit den Zuhörern.Es ist ein Glücksfall, wenn die Biografie eines außergewöhnlichen Menschen nicht vergessen wird, der von sich selbst sagt, es geht nicht um mich. Bei der Biografie von Rudolf Herrnstadt (1903-1996) ist es ein besonderer Glücksfall, dass seine Tochter, Irina Liebmann, eine begabte Journalistin und Schriftstellerin, sehr spät zwar, aber doch sehr sorgfältig die Geschichte ihres Vaters recherchiert hat und diese in einer sehr poetischen Sprache erlebbar werden lässt. Und so spiegeln die Biografien von Vater und Tochter ein ganzes Jahrhundert bewegter europäischer Geschichte wider. 
Die Tochter beschreibt den Vater als Enthusiasten, der er zeitlebens geblieben ist, eine Ausnahmeerscheinung unter den Intelektuellen in Deutschland. Und zeitlebens ist er auch seinen Überzeugungen und seiner Liebe zum Journalismus treu geblieben. Geboren und aufgewachsen in Gleiwitz in Oberschlesien in einem begüterten Elternhaus, in dem humanistische Bildung und Kultur wichtiger Lebensinhalt sind, in dem außerdem die Arbeit eines jeden unabhängig von Ansehen und Person geschätzt wird. Aus diesem Grund ist der Vater, Ludwig Herrnstadt, Mitglied in der SPD. Als der Sohn Rudolf das Jura-Studium abbricht, weil er Schriftsteller werden will, muss er sein Brot in einer Papierfabrik verdienen. Es zeugt von den außergewöhnlichen Fähigkeiten dieses Mannes, Rudolf Herrnstadt, dass er bereits nach drei Jahren eine Zweigstelle diese Betriebes übernehmen soll, er lehnt ab, weil er nicht zum Ausbeuter werden will, geht nach Berlin und lebt dort als unbezahlter Hilfsredakteur beim Berliner Tageblatt bis er es zum Redakteur schafft. Eigentlich wollte er Theaterstücke schreiben, zeitlebens sucht er nach der neuen zeitgenössischen Form des Dramas, ziemlich erfolglos. Als Redakteur ist ihm mehr Erfolg beschieden, er wird Auslandkorrespondent in Prag, Warschau und Moskau. Als Jude kann er 1939 nicht mehr nach Deutschland zurückkehren und emigriert in die Sowjetunion. In die Kommunistische Partei war er bereits 1930 eingetreten, nachdem er gesehen hatte, wie Unternehmen bei Streiks der Arbeiterschaft mit Entlassungen reagierten und die Familien in Not brachten. An seiner Überzeugung, dass das Soziale dem Individuellen überzuordnen ist, wird er bis an sein Lebensende festhalten. 
Von Moskau aus kehrt er 1945 mit seiner Familie in das zerstörte Deutschland nach Ostberlin zurück, wird Chefredakteur der Berliner Zeitung, Mitbegründer des Berliner Verlages und später Chefredakteur der Zeitung Neues Deutschland. Und genau dieses "Neue Deutschland" lag ihm am Herzen, seine kritischen Leitartikel aus der damaligen Zeit bezeichnet Irina Liebmann heute als Paukenschlag. Das macht auch verständlich, dass er im Briefwechsel mit Thomas Mann und anderen Schriftstellern ein gefragter Partner war. Doch genau diese seine Haltung brachte ihm 1953 den Ausschluss aus dem ZK der SED und 1954 aus der Partei ein. 
Sein privates Leben war geprägt vom Holocaust, der fast die ganze Familie auslöschte, vom Tod der früheren Lebensgefährtin Ilse Stöbe, die 1941 als Mitglied der Roten Kapelle in Plötzensee hingerichtet wurde und von der Enttäuschung, dass seine Ideale nun unter dem Regime von Walter Ulbricht erstickt werden. Er blieb ein ungebrochener Mensch auch noch als vergessener wissenschaftlicher Mitarbeiter im Zentralarchiv Merseburg. 1966 starb er in Halle. 
Irina Liebmann, gebürtig in Moskau 1943, ist die Tochter aus seiner Ehe mit Valentina Herrnstadt, einer Germanistin aus Sibirien. Irina Liebmann schreibt eine klare poetische Sprache und versucht, die Lebensleistung ihres Vaters dem Vergessen zu entreißen, dem die Ideale eines Sozialstaates wichtig waren, dem aber der Name Kommunist zu Unrecht als Makel anhaftet.

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