Reimann-Texte immer wieder neu und frisch

Lesung im ersten Wohnkomplex der Stadt in der Nähe der ehemaligen Gasstätte "Glück Auf", in der Brigitte Reimann einige Szenen ihrer Bücher ansiedelt.

Ein Spaziergang, beschauliches Gehen in der freien Natur, mit Zeit zum Nachdenken über Gott und die Welt, man schlendert ohne Eile, man bummelt. Bei einem Reimann-Spaziergang allerdings kann von Müßig-Gang keine Rede sein, denn es erfordert genaues Hinhören und Rückerinnern in der Zeit, auf den Spuren der Stätten, die Brigitte Reimann (1933-1973) in ihren Büchern über Hoyerswerda beschreibt; in einer Zeit, als die ersten Häuser der Neustadt bereits zur Geschichte gehören und in der die ersten Hochhäuser an der Bautzener Allee gerade gebaut werden, in den Büchern "Ankunft im Alltag" und "Franziska Linkerhand". 
Aus diesen Romanen und aus ihren Tagebüchern ist bei einem Reimann-Spaziergang zu hören. Diese Texte werden heute bereits zum 120.Mal gelesen, an authentischen Plätzen, von Angela Potowski diesmal allein, da Helene Schmidt zum ersten Mal verhindert ist . Immer wieder wirken die Texte neu und frisch. Es ist die Sprache einer leidenschaftlichen Frau, die sich in der Literatur auskennt, kein Journalismus, sondern hohe poetische Kunst, die Sprache einer Frau, die allen Gesprächspartnern genau zuhört, innere und äußere Zusammenhänge ahnt und fühlt. In ihrem Roman "Franziska Linkerhand" erzählt sie von einer sensiblen und leidenschaftlichen, gut ausgebildeten Architektin, die in Konflikt mit der "Häuserfabrik" von Hoyerswerda gerät und die trotz allem über dem Zweckmäßigen das Schöne sucht und das Leben nicht vergisst. Marcel Reich-Ranicki nennt diesen Roman ein Parlando, in dem der Odem großer Literatur weht und von der FAZ wird er als eines der wichtigsten und schönsten Bücher der Gegenwartsliteratur rezensiert.
Brigitte Reimanns Zeit war von 1960 bis 1968 in Hoyerswerda. Hier schrieb sie alle ihre wichtigen Werke, alltagsnah und doch von großer Poesie. Sie berührt vor allem junge Leute, deren Denken und Fühlen im Aufbegehren gegen die alte Generation, in ihrer Lesung am Lausitzplatz. Brigitte Reimann setzte sich damals vehement für den Bau von Theater und Kaufhaus ein.Distanz zu den alteingeprägten Zeitläufen und Moralvorstellungen und in ihrer hemmungslosen Hingabe an die Liebe. Eine Frau, die wie besessen schrieb, neben Männern Jazz liebte und schnelle Autos. Bei Brigitte Reimann finden junge Leute alles, was sie umtreibt, Sinnlichkeit und Aufmüpfigkeit, Lebensfreude und Lebensfrust, die Gratwanderung zwischen Anarchie und Toleranz.
Dass Brigitte Reimann sehr genau zuhören konnte, erzählt Martin Schmidt in seinen vielen Geschichten, die mit Brigitte Reimann, mit dem Kombinat Schwarze Pumpe und mit der Literatur in und um Hoyerswerda zu tun haben, er erzählt es den Besuchern, die seit nunmehr 10 Jahren zu den Reimann-Spaziergängen aus aller Welt kommen. Dr. Rupprecht aus Toronto wollte nicht glauben, das Brigitte Reimann niemals in China war, denn das, was sie den Architekten Landauer in ihrem Roman erzählen lässt von dem silbrigen Licht am Perlfluss, von den trabenden, singenden, keuchenden Bauern, die in flachen Körben Erde für einen Dammbau schleppen und von der vollendeten Architektur der Pagoden, der Gärten und Paläste der verbotenen Stadt kann nur einer wissen, der das vor Ort erlebt hat. Zugehört hat sie in Person dem Architekten Rudolf Hamburger, der lange Jahre in Shanghai lebte, später Chefarchitekt beim Aufbaustab in Hoyerswerda war und dessen Sohn nun schon mehrfach beim Kunstverein zu Gast weilte. "Das grüne Licht der Steppen" allerdings hat sie 1964 wirklich erlebt und den Stolz und Enthusiasmus der Bewohner Sibiriens, wie aus ihrer gleichnamigen Erzählung zu erfahren ist. Martin Schmidt erzählt auch von dem Schriftsteller Siegfried Pitschmann, dem zweiten Ehemann der Reimann, mit dem sie 1960 nach Hoyerswerda in die Liselotte Herrmann-Straße zieht und der 1993 noch einmal wiederkommt und seine berühmte Rede zum "Barbara-Tag" hält.
Von einer "Spaziergängerin" am heutigen Tag, die aus Hoyerswerda stammt und mittlerweile als Gymnasiallehrerin in Hamburg arbeitet, ist zu hören, dass das Buch "Franziska Linkerhand" zur Lektüre im Deutsch-Unterricht gehört. Warum nicht bei uns?
Alles in allem ein jugendlich frisches Andenken auch an diesem 120. Reimann-Spaziergang, genau am Tag ihres 79. Geburtstages und 39 Jahre nach ihrem Tod. Beeindruckend das Credo ihres Lebens, das sie 1972 Veralore Schwirtz schreibt, ein Jahr vor ihrem Tod und unheilbar krank: Es war einmal eine höchst lebendige Frau... eine Frau, die mal ganz unten, mal ganz oben war, mit berühmten Malern und Literaten verkehrte und als Hilfsschlosser in der Brigade im Braunkohlenkombinat arbeitete - kurzum: es war einmal, und es war gut so, und auch das Schlimme und Dreckige war in seiner Art gut.
Und, dass Martin Schmidt, Helene Schmidt und Angela Potowski in dieser Weise Brigitte Reimann und Hoyerswerda ehren, ist auch gut so.

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