Ohne Dich stehe ich nur auf einem Bein  

Briefe zwischen Sofja Tolstaja (1844-1919) und Lew Tolstoj (1828-1910) - gelesen und ausgewählt von Helene Schmidt und Angela Potowski

Helene Schmidt und Angela Potowski lesenDer Briefwechsel zwischen Lew Tolstoj und seiner Frau Sofja Tolstaja ist eine echte literarische Fundgrube, für die Dichtungen ebenso wie für Leben und Denken Tolstojs und der Frau an seiner Seite, die ihm eine ebenbürtige Partnerin war. 
Helene Schmidt und Angela Potowski suchten sehr anschauliche und faszinierende Textstellen aus und trugen diese einem aufmerksamen Zuhörerkreis vor. Man wurde hineingenommen in eine Zeitreise von der ersten Ehezeit ab 1862 über fast 50 Ehejahre hinweg bis ins Jahr 1910, Jahre zwischen Krise und Lebensfreude, zwischen Entfernung und Annäherung, Jahre, in denen ihnen 13 Kinder geboren werden und vier davon im Kindesalter sterben, Jahre, in denen ein unauslöschliches Werk der Weltliteratur entsteht: „Krieg und Frieden“, „ Anna Karenina“, „Auferstehung“, „Kreutzersonate“ und viele weitere, sehr russische Erzählungen und berühmte Schriften. 
Alle Aufzeichnungen Tolstojs schrieb Sofja ins Reine, die meisten mehrmals, da Lew ständig änderte und verwarf. Da fragt man sich schon, wann haben die beiden denn nun neben Werk und Kindern und Führung des Gutes Jasnaja Poljana noch so eine Unmenge Briefe geschrieben? Ein Brief in seiner ursprünglichen Bedeutung heißt ja eigentlich breve scriptum, kurze Mitteilung, die Briefe aber zwischen den beiden Tolstojs sind allesamt sehr umfangreich und schon fast kleine „Novellen“, die Neuigkeiten weitergeben, aber auch sehr sensibel die inneren Befindlichkeiten der beiden ahnen lassen. Sie bewundert ihn für sein dichterisches Können ein Leben lang: „Wie wertvoll ist alles, was Du mir zur Abschrift dagelassen hast“, schreibt sie über das Manuskript von „Krieg und Frieden“, dann aber fügt sie eigene Auffassungen zur Zeichnung der Charaktere der Hauptfiguren bei, die erstaunen lassen. Lew erkennt diese Tipps als klug und gerechtfertigt an, obwohl er in den meisten Briefen ihre geistigen Ansprüche gering schätzt.
Denn seine große Liebe gilt ein Leben lang seinem dichterischen Werk und „seinem“ Russland, er „schreit“ um den russischen Menschen, den er in Hunger und Elend wahrnimmt und will sein eigenes Leben an diesem ausrichten, „soll ich nicht nach dem handeln, wovon ich schreibe?“ Sofja dagegen sorgt sich in erster Linie um Mann und Kinder und betreibt die Veröffentlichung seiner Arbeiten, natürlich auch, um das Leben zu finanzieren, sie erfüllt damit in seinen Augen nur einen minder geistigen, sehr materiellen Anspruch. Daneben übernimmt sie die typische Rolle der Frau, die ihren Mann immer wieder ermuntern und aufrichten muss, ihn vor Verzagtheit und zu tiefem Hingeben an eine bedingungslose Nächstenliebe bewahren will. Ihre Nächstenliebe ist eher praktischer Natur, sie richtet gemeinsam mit Lew Suppenküchen für Hungernde und Kranke ein.
Man hat den Eindruck, Lew und Sofja bewegen sich in zwei verschiedenen Lebenswelten und überbrücken diese Distanz ganz bewusst durch ihre Briefe. Vor der Ehe schreibt Lew an Sofja: Ich glaube, ich könnte mich an Ihnen freuen, wie an einem Kind. Prüfen Sie sich gut!  Die Freude ist ihm eher verloren gegangen als ihr, aber sie wollte sicherlich nicht die Rolle eines unmündigen Kindes spielen. Ihre Kurzromane „Lied ohne Worte“ und „Eine Frage der Schuld“ erscheinen erst nach ihrem Tod und zeigen sehr wohl eine begabte Dichterin, was in den Briefen deutlich zu spüren ist. 
Die von den Protagonistinnen vorgetragenen Texte wirkten trotz aller Differenzen und Gegensätze irgendwie vertraut, so „als hätten sich Sofja und Lew ein wenig unterhalten“ und so, als ob einer ohne den anderen nur auf einem Bein stünde.
Ein herzlicher Dank an Helene Schmidt und Angela Potowski sowie an Martin Schmidt, der Lebensdaten und schriftstellerisches Werk einfühlsam erinnerte.
Gelesen wurde aus: Lew Tolstoj – Sofja Tolstaja: Eine Ehe in Briefen, Berlin: Insel Verlag 2010, ISBN 3-458-17480-X.

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