Die Zeit ist aus den Fugen

Dieter Fratzke, ehemaliger Leiter des Lessing-Museums in Kamenz, referiert über den Aufklärungsgedanken bei Lessing (1729-1781).

Dieter Fratzke, Kamenz, währen eines Vortrages über den Aufklärungsgedanken bei Lessing. 2019"Die Zeit ist aus den Fugen. Schmach und Gram, dass ich zur Welt, sie einzurichten kam." Diese Worte lässt Shakespeare seinen Hamlet vor 400 Jahren in London sagen. Und wenn Gotthold Ephraim Lessing im Mittelpunkt eines Vortrages steht und Dieter Fratzke der Referent ist, glaubt man gern, dass Lessing das Gleiche von sich hätte sagen können.
Zu Zeiten Lessings, im 18. Jahrhundert, begann der Mensch, sich aus einer selbst verschuldeten Unmündigkeit zu befreien. Die Weisheiten eines Platon, Sokrates oder Aristoteles waren in Vergessenheit geraten. Die Vernunft war eingeschlafen. Gegen den Schlaf der Vernunft treten Literaten und Künstler an.
Dieter Fratzke wählt als Beispiel für seinen Vortrag zur Aufklärung eine Radierung von Goya: "Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer". Fratzenhafte Wesen verursachen dem schlafenden Menschen Alpträume, verängstigen und traumatisieren ihn. Als da sind Aberglaube, Hexenwahn, Vorurteile und Fanatismus.
Mit der Wiederbesinnung auf die Antike beginnt in Europa die Epoche der Renaissance und damit die Besinnung auf die Vernunft, es beginnt die Aufklärung über Naturgesetze und über Gesetze, die in einer Gesellschaft wirken. Lessing wird zum wichtigsten Vertreter dieser Aufklärung.
Daher ist es für Dieter Fratzke völlig unerklärlich, wie ein renommierter Professor am Harvard College, Steven Pinker, ein umfangreiches Buch herausgeben kann mit dem Titel "Aufklärung jetzt. Für Vernunft, Wissenschaft, Humanismus und Fortschritt", in dem nicht einmal der Name Lessings vorkommt, geschweige denn ein Hinweis auf die umfangreichen exzellenten Schriften Lessings.
Der Weg der Aufklärung führte von England aus nach Frankreich und Deutschland, die Französische Revolution brachte dann einen gewissen Abschluss, mit allen Nachteilen, die Revolutionen in sich tragen. Lessing hat diese nicht mehr erlebt, er starb mit 52 Jahren 1781 in Braunschweig. Dieter Fratzke hätte gern gewusst, wie er sich wohl zur Französischen Revolution geäußert hätte. In seinen philosophischen und theologischen Schriften predigte Lessing Vernunft und Aufklärung gegen Willkür und Staatsreligion schon lange vorher.
In den Theaterstücken versucht Lessing dem hohen Anteil von Analphabeten in der Bevölkerung gerecht zu werden, seine Dramen sollen zeigen, wie eine unvernünftige, begrenzte Welt trotz aller Mängel menschlich vernünftig gestaltet werden kann.
Berühmtestes Beispiel ist "Nathan der Weise". Lessings Christentum lebt von der Toleranz gegenüber anderen Religionen, allerdings gibt es für ihn keine Toleranz gegenüber Intoleranz. Der Höhepunkt in einem Diskurs gegen Intoleranz war ein öffentlicher Briefwechsel mit dem Hamburger Pastor Götze, den Lessing mit dem Theaterstück "Nathan der Weise" beendete, das in der Ringparabel die Aufforderung erhält, ein jeder eifre seiner unbestochnen, von Vorurteilen freien Liebe nach und lege die Kraft seines Ringes durch Eifer an den Tag... er komme dieser Kraft mit Sanftmut... Wohltun und innigster Ergebenheit in Gott nach.
Solche ethischen Aspekte sucht man in Pinkes "Aufklärung" vergebens. Für ihn wird der Fortschritt fast ausschließlich durch Weiterentwicklung von Technik und Wissenschaft gestaltet, der Mensch in seiner Begrenztheit bleibt außen vor. So entsteht eine immer größere Kluft zwischen dem, was Wissenschaft und Technik leisten können und dem, was der Mensch verantworten kann. Die Folge sind weitreichende Zerstörungen der Erde mit allem, was ihr innewohnt. Welche Prämissen würde Lessing der Erziehung des Menschen heute raten? Als Antwort wählt Dieter Fratzke Goethes Urteil über Lessing: Ein Mann wie Lessing täte uns not. Denn wodurch ist dieser so groß als durch seinen Charakter, durch sein Festhalten! So kluge, so gebildete Menschen gibt es viele, aber wo ist ein solcher Charakter!
Die anschließende lebhafte Diskussion zeigte, dass es zu den Themen Aufklärung, Grenzen der Vernunft und Fortschritt viele Meinungen gibt. Aber alle waren im Grunde überzeugt, dass es heute darum geht, Lösungen für die "Erziehung der Menschheit" zu finden, den Fortschritt zu mäßigen und in menschenwürdige vernünftige Bahnen zu lenken, wobei die höchste Instanz nicht Fortschritt heißt, sondern Verantwortung für die Erde, die dem Menschen gegeben ist, der sich Toleranz und Menschlichkeit immer aufs Neue erwerben muss.

 

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