Unzählige kleine Geschichten verdichten sich zu Zeitgeschichte
Hartmut Zwahr stellt sein Buch "Abschiednehmen" gemeinsam mit dem Sax-Verlag in einer Premiere beim Hoyerswerdaer Kunstverein vor.
Hartmut Zwahr, von Haus aus Historiker, heute Professor für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte in Leipzig, malt in seinem neuesten Roman "Abschiednehmen" ein Sittengemälde der Oberlausitz in den Wirren des 20.Jahrhunderts und nennt ihn im Untertitel "Lausitzroman". Es sind Geschichten einer Familie, die in anderen Regionen Deutschlands durchaus identisch abgelaufen sein könnten.
Beim Schreiben des Romans konzentriert sich Hartmut Zwahr auf seine Erinnerungen, schreibt sie auf, streicht ununterbrochen überflüssige Wörter und Sentenzen, lässt keinen Ich-Erzähler zu Wort kommen, sondern erhellt das, was Geschichten und Geschichte tun: Sie fangen an.
In einem Prolog wird vom Abschiednehmen Johanns von der Mutter im Jahr 1995 erzählt. Edith war die Tochter von Gustav und Hedwig. Gustav, der Großvater von Johannes, kauft im Jahr 1904 eine Wassermühle in Strahwalde bei Herrnhut, das ist der zeitliche Beginn des Romans.
Da es eine weit verzweigte Verwandtschaft gibt, reichlich Nachbarn und Bekannte, Geflüchtete und Vertriebene, ist es ziemlich schwer, die Übersicht zu behalten. Denn die Sätze sind so verknappt, dass ein Satz einfach so dasteht, wer diesen denn sagt, muss der Leser immer aufs Neue "nachdenken".
Gustav wird mit dem Kauf der Mühle selbständiger Müller und Bäcker und ein wohlhabender Bürger. Er überlebt die Schrecken des Ersten Weltkriegs, kommt aus der Gefangenschaft mit nur einem Auge zurück, kann die Mühle bis in das Krisenjahr 1930 halten. "Am Ende war die Krise schuld, dass Gustav die Mühle nicht halten konnte, er selber hatte sie zu groß werden lassen. Gustav konnte das Rad nicht erbremsen, das Rad nicht anhalten, das dann die Krise anhielt". Es gibt nach dem ersten Weltkrieg nichts zu mahlen und somit nichts zu backen, das Land hungert. Gustav wird Pachtmüller, aber die Krise hält weiter an, er wird Handlungsreisender für Mühlen- und Bäckerartikel. Die Tochter Edith heiratet Georg, einen Verwaltungssekretär aus Bautzen, Sohn Johannes kommt zur Welt, die Wirtschaft erlebt einen Aufschwung, , aber nicht lange, es beginnt ein zweiter mörderischer Krieg. Georg wird Soldat, wie viele andere auch, die Familien erleben Ängste, Warten auf Nachricht und erhalten Todes oder Vermisstenanzeigen. Die Kriegshandlungen kommen bis an die Neiße, bis nach Bautzen. Die Bevölkerung erlebt die "Segnungen des Krieges" in voller Härte, erlebt Kämpfe der deutschen Armee gegen die sowjetische und die polnische Armee, den Hass aller gegen alle, dazwischen suchen Flüchtlinge und Vertriebene aus dem Osten eine Bleibe, eine Zeit am Abgrund.
Johann lebt mit Mutter und Bruder bei den Großeltern, wartet auf den Vater, Georg. Dieser war Soldat in Russland, war bei der Belagerung von Leningrad dabei, kommt in Gefangenschaft und ist später ein traumatisierter "Heimkehrer", nicht einfach für seine Familie und für seine Verwandten. Georg ahnt, dass er aufhören muss mit seinen Erzählungen über Krieg und russische Gefangenschaft, "der Verwandtschaft ist wie Frieren".
Inzwischen ist eine "neue Zeit", Johannes hat die Wirrnisse seiner Kindheit mit sensiblem Gespür wahrgenommen und gespeichert. Diese neue Zeit erlebt er in der sowjetischen Besatzungszone und in der DDR als Schüler und als Lehrling in einer Bibliothek. Politisch nicht mehr erwünschte Bücher werden aussortiert, später politisch nicht erwünschte Bücher gar nicht erst gedruckt, Johannes aber speichert alles, was Literatur ausmacht, wird Bibliothekar und Historiker. Später wird er selbst Bücher schreiben.
Der Lausitzroman "Abschiednehmen" von Hartmut Zwahr wurde im Sax-Verlag herausgegeben. Der Verlagsgründer, Lutz Heydick, und seine Tochter, Birgit Röhling, die heutige Geschäftsführerin, begleiteten den Autor an diesem Abend.
Der Sax-Verlag ist ein kleiner Verlag in Leipzig-Markleeberg. Es sind die kleinen Verlage, die die heutige Bücherwelt würzen , obwohl von einem kleinen Angebot bei dem Sax-Verlag eigentlich nicht die Rede sein kann; interessante Sachbücher ohne Ende, die meisten den mitteldeutschen Raum betreffend. Mit dem Roman von Hartmut Zwahr wagen die Verleger den Schritt in die Belletristik, erhoffen sich ein breites Lesepublikum.
Denn der "Lausitzroman" erfüllt die Erwartungen an einen spannenden Romans ebenso wie die Kriterien eines Sachbuchs, eine genaue Recherche, in diesem Fall von Zeit und Leben in einer von deutscher und sorbischer Geschichte geprägten Landschaft, in einem "entarteten" Jahrhundert.