Wahrnehmungen zu einem Essay verdichtet
Im Rahmen der GrenzgängeR-Gespräche der Robert-Bosch-Stiftung ist die Schriftstellerin Olga Martynova zu Gast beim Hoyerswerdaer Kunstverein.
Olga Martynova ist eine Sprachkünstlerin, obwohl sie die deutsche Sprache erst mit 21 Jahren erlernte. Die von ihr vorgestellten Essays aus dem Buch "Über die Dummheit der Stunde" zeigen dies in besonderem Maß.
Die Art des Sprechens ist das, was die Sprache aller Völker ausmacht, denn die Art des Sprechens ist an den Kleinigkeiten zu erkennen, Sprache ist das Transportmittel für die Gedanken. Gedanken aber sollen vor dem Sprechen und Schreiben durchdacht werden, bevor sie als Dichtung, quasi "ver-dichtet" in einem Essay geäußert werden. Es ist ein Vergnügen und eine Lehrstunde zugleich, wenn man ihren Texten über einen Besuch im heutigen Russland und auf der Krim folgt. Sie schreibt auf, was sie wahrnimmt, ohne Wertung, ohne besserwisserische Position, wohltuend wie einst Maximilian Woloschin, der in Zeiten des Bürgerkrieges auf der Krim seine Neutralität bewahrt, den Roten und Weißen geholfen hat. "Vielleicht sollte man heute öfter darüber nachdenken", ist Martynovas Credo, was sie mit ihren klugen Büchern beweist. Den Wohnort Woloschins in Koktebel samt Dichter hatten übrigens Fritz und Sieglinde Mierau mit einem eignen Essay beim Kunstverein im Jahr 2009 vorgestellt.
Olga Martynova vermeidet zu schnelle Schlussfolgerungen, zu denen es kommt, wenn man von einer eigenen moralischen Überlegenheit ausgeht, wenn ein klares Bewusstsein fehlt. In ihrem Essay "Der goldene Apfel der Zwietracht" gestattet sie einen Blick in die Geschichte der Krim und lässt staunen; es gibt wohl kaum einen Landstrich auf dieser Erde, der schon von so vielen Völkern bewohnt wurde wie die Krim, "nur einige Völker: Taurer; Kimmerier; Griechen; Skythen; Kiptschaken; Römer; Alanen; Goten; Hunnen; Chasaren; Mongolen; Karäer; Krimtschaken; Italiener; Armenier; Bulgaren; Tscherkessen; Krimtataren; Juden; Russen; Ukrainer; Deutsche; Moldauer und noch viele, von denen man heute weiß, und bestimmt viele, deren Spuren verschwunden sind." Eine ähnlich lange Liste ist zu lesen von allen berühmten Personen, die mit der Krim verbunden sind und von Staaten, die je das Territorium der Krim beherrschten. Wer will da heute urteilen, was wem gehört?
Olga Martynova wurde 1962 bei Krasnojarsk in Sibirien geboren. Der Vater war Chefredakteur einer Zeitung in Leningrad, dem heutigen St. Petersburg, bevor er aus Unzufriedenheit mit der politischen Situation freiwillig nach Sibirien ging. Die Familie zog auch hier häufig um und Olga erlebte schon als Kleinkind die Vielfalt von Völkern und Sprachen. Zurückgekehrt nach Leningrad, wird ihr diese Stadt zur Heimat, Sehnsuchtsland aber die Krim, die Heimat der Großeltern und Sehnsuchtsland der Dichter: Puschkin, Tolstoi, Tschechow, Mandelstam, Majakowski... Olga Martynowa studierte russische Sprache und Literatur und kam mit ihrem Mann, dem Schriftsteller Oleg Jurjew (1959-2018), im Jahr 1990 nach Deutschland.
Es ist also ein literarischer Genuss, ihr Essay zur Krim zu lesen und mit ihr gemeinsam die Krim von gestern und heute zu erleben, die Städte Sewastopol, Jalta, Simferopol, Jewpatorija, die Moscheen oder christlich orthodoxe Kirchen, und die Menschen mit ihren jeweiligen Überzeugungen; zu hören ist von den Krimtataren, die das eine Mal vertrieben werden, das andere Mal willkommen sind. Überall präsent sind die Fehler von gestern und heute.
Vielen ist die Krim möglicherweise gleichgültig, sie wird zum puren Symbol des Widerstandes der einen gegen die anderen und der anderen gegen die einen. Bei allem Gezänk in In-und Ausland sollte die wunderbare Besonderheit der Krim darüber nicht verloren gehen, das wird durch Olga Martynova eindringlich vermittelt.
Mit freundlicher Genehmigung von Sächsische Zeitung, Hoyerswerdaer Tageblatt