Lebendig wie nur je in Hoyerswerda

Der Kunstverein lud zum 85. Geburtstag der Schriftstellerin Brigitte Reimann in die Begegnungsstätte.

Kaffee, Kuchen, ein Freundeskreis am gedeckten Tisch in der anheimelnd eingerichteten Guten Stube, angeregte Gespräche über schöne Erinnerungen und große Neuigkeiten – ein harmonischer Geburtstag; wie so viele Geburtstage dieser Welt. Und doch einer, bei dem vieles anders war. Denn das „Geburtstagskind“, das an jenem 21. Juli, dem Sonnabend, seinen 85. Ehrentag gefeiert hätte, kann ja schon lange nicht mehr unter den Gästen weilen. Und ihre mittlerweile 87-jährige beste Freundin von weither, Irmgard Weinhofen, die sich ja so sehr auf das Dabeisein gefreut hatte; ein frühes Buch der Jubilarin vorstellen sollte und wollte, musste schließlich doch absagen: die Gesundheit, die Gesundheit ...

„Geradezu ein großer Wurf“

Helene Schmidt liest aus dem Briefwechsel zwischen Brigitte Reimann und Wolfgang Schreyer. Verblüffende Weisheiten und (Selbst-)Erkenntnissen, die klangen, als seien sie soeben fürs Heute geschrieben worden und nicht vor einem halben Jahrhundert.Doch der Kunstverein Hoyerswerda wusste Rat: Statt Irmgard „Irmchen“ Weinhofen hatte Abenteuerschriftsteller Wolfgang Schreyer, obgleich indirekt, das Wort zum Band „Die Frau am Pranger“. Mit dem hatte Brigitte Reimann (denn sie hätte am Sonnabend auf achteinhalb Jahrzehnte zurückblicken können, ihr galt jener Nachmittag) 1956 mit gerade mal 23 Jahren ihren ersten großen Erfolg. Schreyer (1927-2017) hatte einst dem Kunstverein für das Brigitte-Reimann-Zeitzeugen-Buch „Was ich auf dem Herzen habe“ von 2008 in einem Interview über jene Zeit gesagt: „Bei Brigitte Reimann merkten wir schnell ... sie hatte Talent. Das bewies sie mit ihrem Buch «Die Frau am Pranger», das meines Erachtens ihr erstes Buch war. Ich fand es interessant, denn es besaß einen eigenen Klang gegenüber anderen Büchern der damaligen Zeit. Es war ein sehr gut lesbares Buch. Angesichts des jugendlichen Alters der Autorin war es geradezu ein großer Wurf.“
Überhaupt Wolfgang Schreyer. Gerade dieser Tage erschien der Briefwechsel von ihm mit Brigitte Reimann; herausgegeben von Carsten Gansel und Kristina Stella unter dem Titel „Ich möchte so gern ein Held sein“. Aus eben jenem Buch las Helene Schmidt einige sehr klug ausgewählte Briefe, in denen, man darf es ruhig so pathetisch sagen, Brigitte Reimann in voller Lebensblüte im Kreise der Zuhörer weilte.
Etwa mit den Zeilen, die sie Schreyer am 5. Juni 1963 aus Hoyerswerda sandte und die hier ausführlicher zitiert werden müssen: „Übrigens sollte man einmal untersuchen, ob der Schriftsteller verpflichtet ist, das Leben seiner Helden zu leben, ihren Mut, ihre Entschlußkraft und alle schönen Eigenschaften. Da ich eine grüblerische Natur bin (man sieht es mir gar nicht so an), habe ich mich in meinem Tagebuch viele Seiten lang darüber ausgelassen: warum lassen wir unsere Geschöpfe Entscheidungen fällen, zu denen wir selbst nicht die Kraft haben? Wir erleben mit Intensität Abenteuer, vor denen wir uns in dem anderen, dem Leben jenseits des Schreibtischs, vermutlich scheuen würden ... Nein, ich glaube nicht, daß der Schriftsteller unabdingbar verpflichtet ist zur Übereinstimmung von Wort und Handeln, aber schön wär’s doch, und wenn ich mir meine bescheidene Buchproduktion ansehe und das Aufgebot an jungen Leuten mit neuem Lebensgefühl, dann streift mich die leise Ahnung, daß ich selbst weder ein Held noch ein moralischer Mensch bin ... Seit einiger Zeit habe ich eine beunruhigende Neigung zum Denken gefaßt ... wobei ich manchmal unvermutet Entdeckungen mache, die mich zornig oder traurig stimmen.
Auf der Delegiertenkonferenz gab es ein Novum: am 2. Tag waren noch vor Ablauf der eingeplanten Zeit die Diskussionsbeiträge alle ... Das ist ein schlimmes Zeichen. Es wurde politische, ideologische Einigkeit festgestellt, und darüber herrschte Freude im Himmel wie auf Erden. ... Aber hatten wir uns denn nicht mehr zu sagen? Mir scheint, wir sollten doch einen Schritt weiter sein, aber psychologische und ästhetische Probleme wurden kaum berührt ... Warum steht der Provinzialismus in Blüte wie nie zuvor? In unserem Bezirk sind in den letzten Monaten vier Schauspiele entstanden, für deren Beurteilung mein Schatz an Schimpfwörtern leider nicht ausreicht. Eine Dreckflut von Provinzialismus, die sich demnächst via Fernsehfunk über die Seher und Hörer ergießen wird – und wetten, daß die Kritik lieb und behutsam und der an unverdauliche Kost allzu gewöhnte Zuschauer freudig bewegt sein wird?“ – Und Schreyer antwortet schon am 10. Juni 1963 aus Magdeburg: „Dein Brief war wieder große Klasse. Du mußt daran gefeilt haben, so fließt es mir nie aus der Feder. Du gehörst zu jenen, die einen Teil ihres Talents auf die Korrespondenz mit Unwürdigen verschwenden.“ Neun Jahre später, am 11. April 1972, schreibt Brigitte Reimann, da hat sie nur noch zehn Monate Leben, düster an Schreyer: „Schade, daß wir inzwischen wissen: Wünsche gehören ins Märchenland unserer Kinderzeit.“

Energie und Verstand

Brigitte Reimann, Grafik von Thomas Reimann, DresdenAllein diese wenigen Passagen zeigen Brigitte Reimann und ihre Zeit bis ins Detail; es ist, als stünde man selbst mitten darin. Am treffendsten fasst es wohl der spanische Autor Pablo Martínez Zarracina, zitiert vom Reimann-Übersetzer Ibon Zubiaur: Ihr Schreiben sei von zwei oft antagonistischen Tugenden geprägt gewesen – Energie und Verstand.
Geschrieben wurde an jenem Nachmittag beim Hoyerswerdaer Kunstverein auch: manch neuer Eintrag ins nun schon vierte Gästebuch der Begegnungsstätte in der Brigitte-Reimann-Straße 8 – und ein Brief an Irmgard Weinhofen, mit vielen Unterzeichnern, alle in der Hoffnung, die derart Angeschriebene bald wieder bei bester Gesundheit in Hoyerswerda begrüßen zu dürfen. Wünsche, die ausnahmsweise nicht in das Märchenland unserer Kinderzeit gehören, sondern in Erfüllung gehen mögen.