Gibt es wahre Erinnerungen an unbeschreibliches Leben?
Im Rahmen der GrenzgängeR - Projekte der Robert-Bosch-Stiftung liest Emma Braslavsky (*1971 in Erfurt) aus ihrem Roman "Das Blaue vom Himmel über dem Atlantik". Mirko Schwanitz moderiert beim Hoyerswerdaer Kunstverein.
Erinnerungen sind subjektiv, aber wahr für jeden Menschen, der sich zu erinnern glaubt. Emma Braslavsky hat zu diesem Thema ein wunderbar spannendes Buch geschrieben, das sie beim Hoyerswerdaer Kunstverein vorstellte, "Das Blaue vom Himmel über dem Atlantik". Der Rundfunkjournalist Mirko Schwanitz sorgte als Fragender und als perfekter Kenner ihrer Bücher für ein gutes Gespräch.
Am Ort des Geschehens im Buch treffen sich die Kinder der verstorbenen Elfriede Stamm-Bluhme, geborene Wiehler, im thüringischen Lauterbach zur Totenfeier. Es sind sieben an der Zahl, dazu kommt ein Achter, der auf mysteriöse Weise ums Leben gekommene Bruder Herbert, der sich aus dem Off meldet. Die Kinder haben unterschiedliche Väter, die im Buch nicht präsent sind. Man darf gespannt sein auf die Rückblenden der Kinder.
Indem Emma Braslavsky jedes der Geschwister, es sind vier Mädchen und drei Jungen, in der ihm jeweils eigenen Sprache reflektieren lässt, was ihm bleibt von Kindheit und Mutter, entsteht ein sehr abwechslungsreiches Auf und Ab der Gefühle, Widersprüche inklusive. Als nüchterner Erzähler betritt nur der tote Bruder Herbert die Szene. Das Zusammentreffen der Geschwister gestaltet sich nicht als Dialog, sondern es bleiben Monologe, die Emma Braslavsky in häufigen Bildwechseln bewusst kommentarlos nebeneinander stellt. Nur gelegentlich blitzten berührende philosophische Einsichten auf, die für alle akzeptabel wären.
Könnte aus den Einzelerinnerungen ein wahres Bild der Mutter entstehen? Wohl eher nicht, denn jeder wird bei seiner Wahrheit bleiben und bei seinen Vorstellungen von den Geheimnissen, die das Leben der Mutter umgeben, sowie Leben und Tod deren Mutter, der Großmutter Esther, und des Bruders Herbert. Nicht zu vergessen ist auch der Wellensittich Cowboy, der Gefährte der Mutter und Projektionsfläche ihres Traumes von Amerika, ihres Traumes, eines Tages dort zu leben, wo ihre Idole des "Wilden Westens" herkommen.
Die Autorin wandert mit ihrer Geschichte, beginnend im schlesischen Lauterbach am 20. Februar 1919, über das thüringische Lauterbach der Jahre 1945 bis 1982 bis nach Utah in die USA, zur letzten Reise der Mutter Elfriede nach ihrem Tod, zu einem Grab auf einem Mormonen-Friedhof. Diese Reise führt über den Atlantik, dessen Blau ist grau, dann grün, auch weiß, manchmal rot, orange oder lila. Ganz gewiss blau ist nur der mysteriöse Aufstieg von Großmutter Esther, damals in Schlesien, ins "Himmelblaue".
Der Tag von Beerdigung und Totenfeier im thüringischen Lauterbach ist der Tag nach dem Tod Breschnews, der 11.11. im Jahr 1982, Staatstrauer ist in der DDR angeordnet. Der Tag ist gleichzeitig auch das Fest der Narren, Gnome, Vampire und Zombies, die sich trotz Staatstrauer nicht stoppen lassen und die mit Weisheit und Aberwitz von Emma Braslavsky in die Geschehnisse der Erzählung eingeflochten werden.
Es bleibt spannend bis zum Schluss, nicht alle Geheimnisse werden vollständig aufgeklärt. Und so bleibt der Zauber des Buches auch bis über dessen Finale hinaus erhalten. Die Geschwister gehen auseinander und jeder kann mit seiner Wahrheit weiterhin gut leben, in Ost und West, der Pfarrer, der Offizier der Nationalen Volksarmee, der Philosoph und Drehbuchautor, die Naturphilosophin und Malerin , die Hebamme, die Hausfrau und die Pflegerin der Mutter.
Emma Braslavsky am Foucault-Gymnasium Hoyerswerda
Wie bei allen Lesungen innerhalb der GrenzgängeR-Projekte der Robert-Bosch-Stiftung, war Emma Braslavsky auch bei Schülern am Foucault-Gymnasiums Hoyerswerda zu Gast. Da die Autorin sehr lebendig erzählen und lesen kann, kam sie bei den Schülern gut an. Besonders ihr Mitbringsel aus Moskau, die maßgeblichen russischen Politiker der letzten 100 Jahre, nach dem Vorbild der Matrjoschkas ineinander geschachtelt, von außen mit Medwejew beginnend, über Putin, Jelzin, Breschnew, Chruschtschow bis hin zu Stalin, Lenin und den Romanows, erregten das Interesse. Die von Emma Braslavsky dazu erzählten Geschichten zeigen, wie eng die Geschichte Polens und Schlesiens verwoben ist mit der von Deutschland und Russland.