Auf der Suche nach einem Staat, der es sich leisten kann, zu allen Menschen gerecht zu sein
Uwe Jordan, Journalist, liest aus Texten von Henry David Thoreau (1817-1862)
Wie so häufig bei Lesungen mit Uwe Jordan, war es auch dieses Mal eine Lesung von und über einen Schriftsteller, der in seiner Zeit durchaus berühmt war, uns Heutigen ab kaum noch bekannt ist.
Henry David Thoreau wurde 1817 in Concord geboren, in der Nähe von Boston, im Staat Massachusetts. Sein Lebenslauf liest sich ziemlich abenteuerlich. Der Vater war Bleistiftfabrikant, der Sohn genoss deshalb eine vorzügliche Ausbildung und studierte später an der Harvard University, wurde Lehrer, konnte sich aber mit der Züchtigung von Kindern nicht abfinden, gründete deshalb eine eigene Schule, zusammen mit seinem Bruder bis zu dessen Tod, arbeitete als Geometer, leitete zwischendurch die Fabrik seines Vaters, war Schriftsteller und Philosoph.
Als Aussteiger suchte er "das eigentliche Leben" und zog allein in eine Hütte in den Wald und versuchte, so einfach wie möglich zu leben. Darüber schreibt er in seinem ersten Buch "Walden. Oder das Leben in den Wäldern" und wurde damit berühmt, denn das Thema berührte die Leser, er erzählte nicht über Reisen oder andere belanglose Dinge, er sprach mit seinen Lesern darüber, was wichtig ist zum Leben, darüber, dass unablässige Geschäftigkeit Leben unmöglich macht, dass sechs Wochen Arbeit im Jahr genügen, um den Rest des Jahres davon zu leben, dass Müßiggang bei einem Waldspaziergang nützlicher sei als das fleißige Abholzen von Wäldern.
Den Anlass für sein Essay "Über die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat" lieferten ihm die Umstände in den USA in der Mitte des 19. Jahrhunderts. Die in den Südstaaten herrschende Sklaverei war ihm genau so zuwider wie der von 1846 bis 1848 geführte Krieg gegen Mexiko, in dem die sich die USA in großem Ausmaß Gebiete Mexikos aneigneten, dazu gehören Teile von Texas, gehörten Kalifornien, Arizona, Nevada, Utah, Colorado, New Mexiko und Wyoming, alles in allem fast die Hälfte des damaligen mexikanischen Staates. Dieses Buch wird deshalb zu einer deutlichen Kritik am amerikanischen Staat und an einem Staatswesen überhaupt.
Uwe Jordan las dieses Essay vollständig vor und man konnte von Beginn an den vielen Gedankengängen nur zustimmen, Denkanstöße in viele Richtungen. Thoreau kommt zu dem Schluss, dass er sich das Vergnügen macht, auf einen Staat zu hoffen, der es sich leisten kann, zu allen Menschen gerecht zu sein. Gesehen hat er diesen bisher noch nicht. Welche Eigenschaften dieser haben sollte, konnte er sich sehr wohl vorstellen, denn die beste Regierung ist für ihn diejenige, die "am wenigsten regiert", die jeden Einzelnen als Individuum achtet, eine Regierung, die im Menschen zuerst den Menschen sieht und dann erst den Untertan. Wenn es ein Gesetz gibt, das ich auf Anweisung des Staates befolgen muss, das mit meinem Gewissen aber nicht vereinbar ist, dann sagt Thoreau an vielen Stellen: Brich das Gesetz! ...es ist deine Pflicht, dich nicht mit dem Unrecht einzulassen... Wenn das Gesetz so beschaffen ist, dass du der Arm des Gesetzes sein sollst und das Gesetz ist ungerecht... dann brich das Gesetz.. wenn einer keine Steuern zahlt für den Unterhalt einer Armee, ist das gerecht... wenn ich dem Staat gehorchen würde, käme ich mir ärmer vor... das Individuum ist eine größere Macht als der Staat...
So könnte man bei jedem Satz darüber nachdenken, was bin ich dem Staat schuldig, wo ist es meine Pflicht, ungehorsam zu sein. Ungehorsam als Pflicht gilt für Thoreau besonders bei der Anwendung von Gewalt jeglicher Art. Wozu hat der Mensch ein Gewissen, wenn er es nicht benutzen darf? Wenn ein Soldat ohne Nachzudenken morden und erobern soll, wenn die Verfassung die Sklaverei anerkennt, kann man die Nützlichkeit einer Regierung nicht erkennen. Es bedarf eines Genies, um eine Verfassung zu schaffen, die jedem Individuum gerecht würde. Ein solches Genie ist bisher noch nicht erschienen.
Diese kleine Schrift des David Henry Thoreau diente den gewaltlosen Bewegungen der folgenden Jahrhunderte als Denkmodell, so Mahatma Gandhi bei seiner Bewegung gegen die koloniale Ausbeutung in Indien zur Beendigung der englischen Kolonialherrschaft und ebenso Martin Luther King, der diesen zivilen Ungehorsam in den 60er Jahren in den USA als gewaltloses Mittel gegen die Rassentrennung erfolgreich propagierte.
Da Thoreau fast zur gleichen Zeit lebte, wie Karl Marx, bleiben Vergleiche nicht aus. "Das Kapital" und "Kommunistisches Manifest", diese Schriften von Karl Marx prangern die Ungerechtigkeit der Mächtigen und deren Gesetze ebenso an wie Thoreau, Wege zu Veränderungen liegen für Karl Marx aber nicht beim Individuum, sondern bei einer großen unterdrückten Mehrheit, die ihre Lage nur durch einen gewaltsamen Sturz ihrer Unterdrücker verändern kann, was wiederum Thoreau zum Ungehorsam zwingen würde.
Beide waren sich sicher darin einig, dass sie sich einen Staat vorstellen können, der es sich leisten kann, zu allen gerecht zu sein. Da diesen bisher noch keiner gesehen hat, ist es der Nachwelt aufgetragen, immer aufs Neue daran zu arbeiten.
Es bleibt also spannend, was Uwe Jordan bei der nächsten Lesung aus seiner Bibliothek und aus seinem Wissen preisgeben wird, zum Nachlesen und Nachdenken.