Bedrohliche Stille
Mirko Schwanitz stellt in der Reihe GrenzgängeR den Schriftsteller Nicol Ljubić beim Hoyerswerdaer Kunstverein vor. Das Projekt wird gefördert von der Robert-Bosch-Stiftung Bonn.
"Meeresstille" ist der Titel eines Buches von Nicol Ljubić. Eine fast mystische Form von bedrohlicher Stille ist gleichermaßen als Metapher an vielen Stellen des Buches präsent. Im Moment, wo das Meer still ist, ist es eine unwirkliche Stille, es ist die Vorahnung einer Explosion, deren Druck sich unter der Stille schon aufgebaut hat.
Robert, ein junger Mann, geboren in Zagreb, trifft als Student auf eine junge Kommilitonin, Ana, die aus Serbien kommt und vor ihrem Studium dort gelebt hat. Beide erleben eine bisher nicht gekannte überschwängliche Liebe.
Es ist die Zeit lange nach den Jugoslawienkriegen der 90er Jahre. Robert hat diesen Krieg aus der Perspektive einer deutschen Kleinstadtidylle nur entfernt wahrgenommen. Ana hingegen ist so zwiespältig in diesen Krieg verstrickt, dass sie nur schweigen kann. Jedoch wird ihr dieses Schweigen zu einer Qual, die jederzeit zu bersten droht.
Nicol Ljubić wurde 1971 in Zagreb geboren, wuchs in Deutschland auf, seine Sprache ist im wahrsten Sinne des Wortes die Sprache seiner Mutter. Kroatisch, die Sprache des Vaters, erlernte er nicht, was er heute ein wenig bereut. Erst Jahre nach dem Ende der Jugoslawienkriege, während der Prozesse in Den Haag, wurden ihm die Gräueltaten dieser Zeit bewusst. Mit dem Roman "Meeresstille" versucht er eine Annäherung, als Deutscher mit kroatischen Wurzeln.
Nicole Ljubić erzählt über Robert in der dritten Person, beim Lesen allerdings erlebt man Robert in einer Art Selbstbefragung als sein zweites Ich, wie in einem Spiegel. Der Roman ist eine Balance zwischen Dokumentation und Fiktion. Die Angeklagten in den Den Haag-Prozessen sind reale Personen, die Romanfiguren, die deren Weg kreuzen, hingegen frei erfunden. Die Brücke über die Drina in der Stadt Višegrad im Norden von Bosnien und Herzegowina, spielt in dem Roman eine wichtige Rolle. Seit Jahrhunderten ist sie Berührungspunkt und Kriegsschauplatz von Orient und Okzident, von Muslimen und Christen. Auch in den Jugoslawienkriegen wird sie zum Ort unsäglicher Gräueltaten. Der in Den Haag Angeklagte, Zlatko Šimić, und seine Tochter Ana lebten vormals in Višegrad.
Fragen und Angst vor den Antworten wechseln sich im Roman regelmäßig ab, wie weit sind die Angeklagten schuldig im Sinne der Anklage, wer lügt, wer sagt die Wahrheit, welche Schuld tragen Christen, welche Muslime, ist jeder Serbe ein Kriegsverbrecher, welche Handlungen der Täter waren von Hass motiviert, welche in einer Gewaltspirale von Provokationen begründet, welche positiven Motivartionen kann man den Tätern anrechnen, welche negativen den Opfern? Was hat seine Freundin Ana mir der Schuld ihres Vaters, Zlatko Šimić, eines Professors und Shakespeare-Experten, zu tun?
Es bleiben Fragen bis zum Schluss, viele für Robert unbeantwortet und viele Dinge womöglich schon vergessen. "Denn vergäße man sie nicht, wie könnten sie sich dann wiederholen?" ist ein Zitat von Ivo Andrić, das Nicol Ljubić. seinen Protagonisten Robert am Schluss sagen lässt.
Ein Buch, das sehr nachdenklich macht, spannend geschrieben ist und unserer heutigen Zeit weltkluge und menschlich positive Impulse vermitteln könnte, wenn jemand die Schriftsteller denn ernst nähme.