Religionsphilosophie, bei Lessing nachgelesen
Luthers Einfluss auf Lessing, ein Vortrag von Dieter Fratzke, Kamenz, beim Hoyerswerdaer Kunstverein
Gotthold Ephraim Lessing (1729-1781) gilt allgemein als eine der wichtigsten und leidenschaftlichsten Persönlichkeiten der Aufklärung, einer Epoche, die ein neues Selbstverständnis für alle Menschen initiierte: dass es unabdingbar ist, den eigenen Verstand zu gebrauchen. Doch die berühmte Forderung von Immanuel Kant: "Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen", ist leichter gesagt als getan in der Gesellschaft des Absolutismus, einer Gesellschaft, in der es unermesslichen Reichtum neben unermesslicher Armut gibt, in der die Mächtigen im wahrsten Sinn des Wortes machtvoll bemüht sind, Änderungen zu verhindern.
Um aber den Verstand zu gebrauchen, muss er geschult werden, dazu bedarf es Wissen und Bildung. In allen Dramen und Schriften Lessings ist höchst aktuell die Förderung von Wissen und Bildung zu finden, Aufklärung über gesellschaftliche Zusammenhänge, über Vernunft und Religion, über Körper und Geist, dazu die Aufforderung zur Toleranz.
Diesem Geist in Lessings Denken ging Dieter Fratzke, ehemaliger Leiter des Lessing-Gymnasiums Kamenz, in seinem Vortrag nach, besonders aber der Frage, wie viel Platz die aufrührerischen Ideen Luthers in der Philosophie Lessings einnehmen. Besonders stark geprägt wird Lessing durch das Elternhaus, vom Vater, der ein hoch gebildeter Mann und evangelischer Pastor in Kamenz ist und einer Mutter, die dem Ideal des lutherischen Pfarrhauses entspricht. Dazu kommt die Oberlausitz als religiöser Raum mit einem toleranten Nebeneinander beider Konfessionen, der lutherischen und der katholischen.
Dem Theologiestudium in Leipzig entronnen, findet Lessing in Berlin Gesprächspartner, die ihn gerade durch ihre unterschiedlichen geistigen Haltungen anziehen, in dem Juden Moses Mendelssohn, in dem Protestanten Friedrich Nicolai, und vielen anderen. Die Ideen Rousseaus und Voltaires werden reflektiert, ebenso die philosophischen Ansätze bei Kant und Fichte.
Intensiv debattiert wird die Haltung zur Religion. Seine Denkansätze zur Religion und zu den Religionen allgemein erarbeitet sich Lessing gründlich. Es studiert die Lehren des Islam so eifrig wie die des Judentums, er beschäftigt sich mit den Dogmen der katholischen Kirche ebenso wie mit Luther und den protestantischen Strömungen. Seine "Gedanken über die Herrnhuter - Absagen an das dogmatische Christentum" lassen schon im Titel seine eigene Haltung erkennen. Der Buchstabe ist nicht der Geist, zitierte deshalb Dieter Fratzke diese Haltung. Lessing ist auf der Suche nach dem Geist in den Religionen, den findet er immer dann, wenn praktizierte Nächstenliebe und Toleranz gelehrt wird, die er bei den im Geist Luthers lebenden pietistischen Herrnhutern beispielhaft vorfindet. Ähnliche Verhaltensweisen findet er aber auch im Judentum und im Islam, es gibt mehr Gemeinsames als Trennendes. Selbst die fernöstliche Götterwelt folgt ähnlichen ethischen Mustern.
"Luther hat uns von der Enge des Geistes erlöst, doch wer erlöst uns heute von den Buchstaben?", fragt Lessing 1774 bis 1778 in sieben "Fragmenten eines Ungenannten", in denen er das Beharren auf dem Buchstaben der Bibel über Auferstehung und Wunderglauben als Grundlage vernünftigen Handelns verwirft. Im Gegensatz dazu, glaubt er an ein "Christentum der Vernunft". Das führt zu dem berühmten Religionsstreit mit dem Hamburger Haupt-Pastor Johann Melchior Goeze, der Lessing in öffentlichen Briefen heftig angreift, auf die wiederum Lessing mit den Anti-Goeze-Briefen antwortet. Als bereits 11 davon vorliegen und ihm weitere verboten werden, nutzt Lessing die ihm gemäße Form des öffentlichen Raumes, das Theaters: Er schreibt das Drama "Nathan der Weise", das berühmte und berührende Bühnenwerk über Toleranz und Religionsfreiheit, Aufklärung und Humanismus, über eine Geisteshaltung, die sehr viel mit Martin Luther zu tun hat. Lessing musste nach eigener Aussage unbedingt auch Mängel bei Luther finden, damit er ihn nicht allzu sehr vergöttere. Und er fand einige, die er in seinen Gedanken zur Reformation formulierte. Dabei wies er besonders auf die falsche Haltung Luthers zu den Juden und den Bauern hin.
Nathan der Weise nun ist der jüdische Kaufmann, der vom Sultan gefragt wird, welche Religion er für die wahre halte. Man muss wissen, dass dieser Sultan einen christlichen Tempelherrn begnadigt hatte, der mit den Kreuzrittern in sein Land eingedrungen war. Dieser wiederum hatte Nathans Zieh-Tochter Recha aus dem Feuer gerettet, so dass sich hier die drei Weltreligionen schicksalhaft begegnen. Nathan muss sich die Antwort als Untertan des Sultans genau überlegen und er antwortet mit einer Parabel über drei identische Ringe, die ein Vater seinen Söhnen so vererbt, dass jeder glaubt, er sei der einzige mit einem solchen und damit des Vaters liebster Sohn und im Besitz eines Steins, dem die Wunderkraft innewohnt, beliebt zu machen. Ein Richter, der nach des Vaters Tod den wahren Ring herausfinden soll, kommt zu dem Urteil, dass alle Ringe identisch sind und jeder gleich die Liebe des Vaters widerspiegelt und er urteilt so: "Hat ein jeder von Euch den Ring von seinem Vater, so glaube jeder seinen Ring den echten... Es eifre jeder seiner unbestochnen, von Vorurteilen freien Liebe nach. Es strebe jeder von Euch um die Wette, die Kraft des Steins in seinem Ring an Tag zu legen". Jeder der drei Ringe verkörpert eine Religion und damit deren gleichwertigen Geist, der gegen das Dogma des Buchstabens steht und damit gegen alle, die meinen, allein die Wahrheit zu kennen. Dem denkenden Menschen hingegen sollte das lebenslange Suchen nach der Wahrheit Bedürfnis und Erfüllung sein und nicht der vermeintliche Besitz derselben.