Spurensuche in Fernost
Nancy Aris, Historikerin aus Dresden, liest aus ihrem Roman "Dattans Erbe" beim Hoyerswerdaer Kunstverein
Einer Spur über die Verwerfungen zwischen den Völkern im 20. und 21. Jahrhundert folgt Nancy Aris in ihrem Buch über einen Mann namens Adolph Dattan, der in Wladiwostok die Kaufhauskette Kunst & Albers am Anfang des 20.Jahrhunderts maßgeblich führte. Den Zuhörern war weder die Kaufhauskette noch der Name Adolph Dattan ein Begriff, noch wusste jemand, dass es einmal so eine schillernde Handelseinrichtung im Fernen Osten gab. Allerdings hatte Nancy Aris bereits im Oktober dieses Jahres ihre Nachnotizen aus Wladiwostok "Passierschein bitte" beim Hoyerswerdaer Kunstverein vorgestellt, die die Grundlage für ihren Roman "Dattans Erbe" bilden.
Nancy Aris schickt ihre Protagonistin Anna nach Wladiwostok mit einem Auftrag, der auf merkwürdige Weis zustande kommt: ein Enkel des Adolph Dattan, hatte in einer renommierten Zeitung in München eine ungewöhnliche Anzeige in russischer Sprache aufgegeben. Und ein Mysterium des Schicksals, die Chiffrenummer stimmte mit dem Geburtsdatum von Anna überein. Das macht sie neugierig, denn gesucht wird ein Historiker mit sehr guten Russisch-Kenntnissen, der Abenteuerlust und Beharrlichkeit mitbringt. Für eine erfolgreiche Recherche in Wladiwostok wird eine überdurchschnittliche Bezahlung versprochen. Was für eine Mischung: Abenteuerlust und Beharrlichkeit?
Anna, suchte nun im und hinter dem Dokument nach den möglichen Gründen für dieses ungewöhnliche Angebot. Von solch gründlicher Recherche aller Dokumente die ihr begegnen, wird im Roman eine Menge zu hören sein. Sie nennt das Demut vor dem Dokument, wenn eben nicht nur die offensichtlichen Fakten zählen, sondern das Leben dahinter. Wer hat es geschrieben, welche Emotionen, welche Zeitenläufe sind zu erkennen, wie weit ist der ganze Mensch zu erkennen? Doch das ist dann schon in Wladiwostok, nachdem sie den Auftrag angenommen hat und aus einer Mischung der realen Recherchen und kreativer Fiktion sich ein spannender Roman entwickelt. Anfängliche Gegenspielerin ist die Archivarin Ludmilla, die ihr diese Demut sehr einprägsam beibringen will und erst viel später merkt, dass Anna das nicht braucht, es wäre wie Eulen nach Athen zu tragen.
Was Anna allmählich erfährt: Adolph Dattan stammt ursprünglich aus Thüringen, arbeitet ab 1875 als Buchhalter in Wladiwostok bei Kunst & Albers, 1898 wird er Teilhaber. Gustav Kunst und Gustav Albers hatten das Unternehmen 1865 gegründet, Warenhäuser, Verkaufsstätten an der Transsibirischen Eisenbahn, Banken, Elektrizitätswerke, Wohnhäuser und Krankenhäuser errichtet, allesamt Gebäude im reich geschmückten Jugendstil. Dattan wird russischer Staatsbürger, ist in vielen öffentlichen Ämtern vertreten, betätigt sich als Forschungsstifter und Kunstmäzen. Mit Beginn des ersten Weltkrieges versiegt der Warenstrom aus Deutschland und Adolph Dattan wird durch gezielte Kampanien als Spion verleumdet und 1915 in die Nähe von Tomsk verbannt. Frau und Familie sind zu dieser Zeit in Naumburg. Dattan bittet das ehemalige russische Kindermädchen Minkchen, die eigentlich Olga heißt, zur sich in die Verbannung. Sie kommt, verehrt Dattan über alle Maßen und wird seine Tagebücher akribisch abschreiben. Diese Tagebücher, von denen bisher nur Teil IV vorhanden ist, soll Anna finden, die Suche wird zur Fabel des Romans. Erst 1920 kehrt Datton aus der Verbannung zurück. Während der Oktoberrevolution war sein Handelsimperium komplett enteignet worden.
In Wladiwostok trifft Anna den Alt-Stalinisten Wolodja, die Archivarin Ljudmilla, die misstrauisch auf oberflächliche deutsche Forscher reagiert und die Unterlagen nur zögerlich bereit stellt, auf Elena, die zur Geschichte von Minkchen gehört, auf Jewgenij, den Briefe-Vorleser und auf Tatjana, die offen ist für die Welt. Mit Hilfe dieser Partner wird es Anna gelingen, viele hundert Briefe von Minkchen zu finden und in diesen nach mühsamer Recherche eine Spur zu den fehlenden Tagebüchern. Diese führt aus dem Fernen Osten zu einer abenteuerlichen Aktion nach Naumburg zurück.
In Annas westlicher Welt herrscht der grenzenlose Traum von Freiheit, nur leider damit verbunden, dass vielen nur die eigene Freiheit wichtig ist, die der anderen steht nicht im Fokus. Wolodja ist geprägt von den Forderungen nach Gleichheit in der Gesellschaft um jeden Preis. Es stellt sich nun die Frage, führt der Anspruch auf absolute Gleichheit für alle nicht ebenso zu Krieg und Gewalt wie der Glaube an die unermessliche Freiheit? Bei beiden bleibt die Brüderlichkeit auf der Strecke.
Mit einer Lesung Annas mit Ljudmilla, Tatjana, Elena, Wolodja und Jewgenij aus ihrem gemeinsamen Buch in der russischen Botschaft in Berlin endet der Roman. Es scheint, als ob diese Lesung in russischer und deutscher Sprache trotz unterschiedlicher individueller Weltbilder zu der fehlenden Brüderlichkeit verhilft, dass jeder hinter dem Wertesystem des anderen den Menschen wahrnimmt und ihn akzeptiert.