„So viele Sprachen man versteht, so viele Leben hat man“ – Eine Reise nach Wladiwostok
„Passierschein, bitte“ lautet der Titel des jüngsten Gesprächs-Abends im Hoyerswerdaer Kunstverein, wie auch des Buches von Nancy Aris, das sie vorstellte. Untertitel: ‚Nachtnotizen aus Wladiwostok‘ gesammelt vom 3.- 19. September 2013 in eben jener Stadt in Fernost, 10 000 km von Moskau entfernt, die einst aus nur wenigen Holz-Häusern bestand - wie alte Fotos zeigten - , dann der streng abgeschirmte Hafen der sowjetischen Pazifik-Flotter und nun eine Stadt mit mehr als einer halben Million Einwohnern, die sich zu einem Wirtschaftsstandort zwischen Japan, China und Korea zu entwickeln beginnt. Die Reise freudige Historikerin begleitete ihren spannenden, locker lebendig erzählten Bericht mit Fotos, die die heutige Stadt sichtbar machten. Sie war auf der Suche nach dem dort vor 150 Jahren von Gustav Kunst und Gustav Albers gegründeten Handelskonsortiums gleichen Namens „ mit 30 Verkaufsfilialen in der Region, Versicherungsgesellschaften, Schifffahrtslinien, Banken und Bergwerken“. Ein Enkel der beiden Gründer hatte sie durch eine Chronik neugierig gemacht, die fernöstlichen Orte aufzusuchen, an denen europäischer Handel sich einst großzügig entfaltete und in den dreißiger Jahren des vorigen Jahrhunderts zerstört wurde. Da ihr nur 12 Tage zur Verfügung standen, folgte Dr. Aris einem strengen Programm, um Geschichte und Gegenwart zu erfassen. Wanderungen durch die Stadt wechselten mit Ausflügen zu Inseln, zu Küsten mit Badestränden oder vernachlässigten Partien. Dazu kamen Recherchen im Archiv, wo ihr Swetlana-Elena hilfsbereit mit exzellenten Detail-Kenntnissen zur Seite stand, während die tätige Rentnerin Irina ihr wichtige Einblicke in das Familien- und das Stadtleben vermittelte. Kontakt freudig durfte der Gast aus Europa auch am Jubiläum anlässlich des 70jährigen Bestehens des Archivs teilnehmen. Der Direktor führte sie persönlich zum Tanz. Sie revanchierte sich mit einer kurzen Dankesrede in russischer Sprache, die freudig aufgenommen wurde. Anhand ihres Buches „Passierschein, bitte!“ gab sie in Hoyerswerda einen gut gewählten Einblick, wie sie jene Stadt erlebte, Menschen fand, die ihr behilflich waren und wie sie die sehr unterschiedlich gestaltete Atmosphäre des Lebens an der Küste des Pazifischen Ozeans beeindruckte. Die Zentrale jener Handelsgesellschaft Kunst& Albers fand sie wieder. Deren Straßen-Fassade zeigte sich – frisch renoviert – im Glanz einstiger Zeit, im echten Jugendstil, wie Wien oder Paris ihn nicht besser bereit halten. Die Hoffassade war allerdings dem Verfall preisgegeben. Überraschend war, dass vor fast allen Gebäuden öffentlicher Tätigkeit – von Hotels, Verwaltungen bis zur neu erbauten Fernost-Universität –uniformierte Wächter standen, die eine Genehmigung zum Zutritt und den Personalausweis akribisch kontrollierten. Diese Beobachtung bestätigten Zuhörer für St. Petersburg und andere Städte in Russland. Nicht nur für Dr. Nacy Aris, auch für ihre Zuhörer und nun für die Leser ihres Buches lohnte sich diese Reise im besten Sinne. Sie weitet den Blick über viele Grenzen hinaus, zeigt dass menschliche Zuneigung an vielen Orten weit von der Heimat entfernt zu finden ist, vor allem auch immer neue Erkenntnise zu Lebensweise und Achtung voreinander fördert. Jeder Reisende, der aufmerksam schauen und zuhören kann, ohne alles besser zu wissen, entdeckt sich als kleinsten Teil einer Welt, die gemeinsam Freude am Leben haben kann. Manfred Brockmann, ein protestantischer Pfarrer, der seit Jahrzehnten eine kleine Gemeinde in Wladiwostok betreut, fand dafür die schönste Formulierung: “So viele Sprachen man spricht, so viele Leben hat man.“