Die Lese Guerilla führt durchs neue Deutschland
Bei der Sonntagsmatinee des Kunstvereins wird der Briefwechsel von Christa Wolf und Franz Fühmann aktuell
HOYERSWERDA: Ganz offiziell zu Gast unter den weißen Kuppeln des Schlosssaales war zu einer bewegenden Sonntagsmatinee die "Lese Guerilla" aus Berlin. Der 85.
Hans-Jürgen Papst und Rike Eckermann (li.) sowie Inès Burdow und Ulrich Herrmann (re.) haben als "Lese Guerilla" Kunstvereinsvorsitzendem Martin Schmidt (Mitte) und zahlreichen Gästen eine bewegende Lesung der Briefe von Christa Wolf und Franz Fühmann mitgebracht.
Geburtstag von Christa Wolf bot dem einladenden Kunstverein und zahlreichen Gästen Gelegenheit, der Schriftstellerin durch den Spiegel ihrer Briefe an Franz Fühmann direkt in die verwundete Seele zu schauen. "Lieber Franz, … so sitzen wir auf unseren voneinander entfernten Liegenschaften und brüten über Briefen an den König", liest Ines Burdow mit sinnschwerer Simme aus einem Brief Christa Wolfs an Franz Fühmann aus dem Mai 1979. "Ich habe plötzlich das Gefühl einer Endzeit", zitiert Hans-Jürgen Papst Fühmanns Eindruck aus dem darauf folgenden Winter.
Es ist nicht der Alltag ihres Heimatlandes, über den die Autoren sich in einem stetigen Schriftverkehr verständigen. Es ist der Rahmen, in den sich der Alltag in der DDR einpasst, und den die Dichterfreunde aus der ihnen eigenen distanzierten Perspektive analysieren. Die Gäste einer bemerkenswerten Lesung erfuhren, mit welcher Konsequenz Wolf und Fühmann ihre Sorge um Gedankenfreiheit und Menschenwürde im Blick behalten, auch wenn durchschaubare Gewalten das Blickfeld sukzessive vernebeln, bis Mauern es völlig verstellen.
Vier Künstler stellen sich dem Auditorium als "Lese Guerilla" vor. Die Schauspielerin Rike Eckermann ist mittig auf der Bühne und in der Dramaturgie platziert. Sie vermittelt, ordnet, ergänzt den Tenor eines zutiefst persönlichen Briefwechsels, den Inès Burdow und Hans-Jürgen Papst einem vergangenen Zeitgeist entreißen, um die seither unbeantworteten Fragen wieder aufzuwerfen. "Das dritte, neue, gültige Wertesystem ist nicht in Sicht", liest Rike Herrmann eine bittere Erkenntnis Christa Wolfs und schickt die Botschaften auf einer Grußkarte aus dem 20. Jahrhundert in das Publikum. "Das Gefühl der Vergeblichkeit hat sich mir zu tief eingefressen", verschärft Inès Burdow die Verzweiflung, die Wolf ihrem Freund vor die Füße wirft. "Jede Zeit bringt notwendig die Künstler hervor, die sie hervorbringen muss", liest Hans-Jürgen Papst.
Die Matinee-Gäste erleben, wie sich die widerspenstigen Intellektuellen in den Grenzen ihrer Denkheimat winden, unterstützt durch die emphatischen Improvisationen des philosophischen Gitarristen Ulrich Herrmann, der die schmale sozialistische Themenvielfalt auf Variationen untersucht. Seine Jazz-Gitarre flüstert oder schreit die Wut der Eingeschlossenen in ihre Texte.
"Der liebe Gott der Schriftsteller macht's schon, dass wir einander finden", zitiert Christa Wolf ihren Seelenverwandten im Sommer 1984 an dessen Grab.
Es scheint, als führe derselbe Gott die Lese Guerilla durch die entrückten deutschen Lande des 21. Jahrhunderts, um von den Enfant Terribles eines früheren Untergrundes zu erzählen, von ihren Leben, ihren Begegnungen und von einer Epoche, der Franz Fühmann an Christa Wolf den Sinn einschrieb, "dass sie uns zueinander rückt".