Jürgen Israel, Berlin, zu Gast beim Kunstverein mit einem Vortrag über Leben und Werk von Wilhelm Raabe (8. September 1831- 15. November 1910)

Jürgen Israel

Es ist erstaunlich, wie oft jede Epoche ihre Dichter zwar achtet und ehrt, wie aber Leser erst nach 100 erkennen, dass dieser Dichter in vielerlei Hinsicht seiner Zeit voraus war. So konnte man an diesem Abend Wilhelm Raabe in einem völlig neuen Licht sehen. Hermann Hesse nennt ihn sogar den einzigen wirklichen Darsteller des deutschen Volkes in seinem Jahrhundert. Das lässt sich an der vielfältigen Themenwahl Raabes beobachten und an seinem genauen Blick für den Alltag.

Der Literaturwissenschaftler Jürgen Israel vermittelte einen umfangreichen Einblick in Leben und Werk eines Dichters, der zwar nicht vergessen ist, aber heute kaum noch gelesen wird. Das Erstaunliche bei Raabe ist, dass trotz der teilweise hindurch scheinenden Idylle der kritische Blick immer präsent ist. Die Unvollkommenheit des Menschen ist sein zentrales Thema; es macht keinen Unterschied, ob einer arm oder reich ist, ob von hohem oder niedrigem Stand, ob Deutscher oder Jude, ob Frau oder Mann, denn es ist „keine Rettung in der Welt, von der Welt“. Und das zu einer Zeit, als die Utopien vom idealen Menschen in einer idealen Welt bei den Philosophen die Runde machte.

Mit hintergründigem Humor und einer absoluten Liebe zum Menschen gestaltet Raabe seine Erzählungen so vielfältig wie das Leben um ihn herum. „Die Chronik der Sperlingsgasse“ erzählt vom Leben in einer Berliner Gasse, in meisterhaften Verknüpfungen von Erinnerungen, Rückblenden und Briefen, von den Schicksalen der kleinen Leute, die den verschiedensten Beschäftigungen nachgehen und als zufällige Gemeinschaft zusammenleben, scheitern und gewinnen. Es entsteht symbolisch eine Chronik Deutschlands zwischen dörflicher Idylle und Industrialisierung, zwischen Auswanderung und Liebe zum Beharren. Mit diesem Roman wird Raabe bereits als 25Jähriger berühmt.
Er schreibt etwa weitere 100 Romane und Erzählungen; in den späteren Werken verdichtet er die Erzählform auf verschiedenen Ebenen, die auf eine kurze Zeit des Erzählens zusammengedrängt werden, immer mehr. Sein letzter Roman „Altershausen“ aus dem Jahr 1902 wird schon der Avantgarde zugerechnet, einer Literaturauffassung, die erst viel später in Deutschland populär wird. Das Spannungsfeld der Erzählung liegt zwischen der Rückkehr eines berühmten Arztes in die Stadt seiner Kindheit und der Reflektion seiner Lebenserinnerungen. Gegenwart und Vergangenheit werden so miteinander verwoben, dass eine fast surreale Stimmung entsteht, die Zeit aber bleibt real zwischen Abschied und Ankunft in einem unvollkommenen Dasein. Wir müssen uns damit abfinden, dass „wir grundfalsch sind, weil die Nuss des Lebens nicht zu knacken ist“.
Auf einen weiteren Roman weist Jürgen hin, auf „Pfisters Mühle“. Hier wird bereits 1884 das Problem der verschmutzten Bäche und Flüsse literarisch aufgegriffen. Eine Zuckerfabrik verschmutzt mit ihren Abwässern den Mühlenbach, das Mühlrad wächst durch Pilze zu, der Gestank vertreibt die Gäste der Mühlbachgasstätte, das kapitalistische Deutschland tauscht die Forellenbäche gegen Fäkalbäche ein. Raabe erzählt und reflektiert dieses Geschehen als warnender Dichter, nicht als politischer Ankläger.
Das Fazit des Abends: Wilhelm Raabe sollte unbedingt neu gelesen werden! Denn neu zu lesen wäre auch Raabes Erzählung „Der Hungerpastor“. Der unstillbare Hunger auf Bildung und Unsterblichkeit wird am Beispiel der ehemaligen Freunde Hans und Moses behandelt, wie er „im einzelnen zerstörerisch oder erhaltend wirken kann“. Der eine benutzt Bildung zur Anhäufung von Macht und Reichtum, der andere versteht es, seinen Hunger ähnlich Goethes Faust, durch eine „recht tüchtige Arbeit“ und durch tätige Liebe zu stillen. Man hat die Wahl, gestern wie heute.
Eine gemeinsame Veranstaltung des Hoyerswerdaer Kunstvereins mit dem Eigenbetrieb für Kultur und Bildung.

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