„Reisen heißt leben. Jedenfalls doppelt, dreifach, mehrfach leben.“ Diese Erkenntnis des polnischen Autors Andrzej Stasiuk (geb.1960) stand unausgesprochen über dem jüngsten Gespräch am Kamin mit dem der Görlitzer Literaturwissenschaftler Dr. Wolfgang Wessig, der dem Hoyerswerdaer Kunstverein neue polnische Reportagen vorstellte.

Martin Pollack

Es wurde nicht nur ein neuer Abend der „Grenzgänge“ , wie Referent und seine Gastgeber diese Reihe nennen, um mit der Literatur unserer Nachbarvölker bekannt zu machen, sondern es wurde eine Reise um die Welt zu uns selbst.
Dazu trugen neben Andrzej Stasiuk mit seinem Reportagen-Band „Fado“ Reiseskizzen wesentlich die Texte „ des Reporter der Jahrhunderts“, Ryszard Kapuscinski (1932 -2007), und auch die des österreichische Schriftstellers Martin Pollack (geb. 1944) bei. Letzteren sind nicht nur die Übersetzungen aus dem Polnischen zu verdanken, sondern auch eigene sehr einfühlsame Reportagen aus Südosteuropa, das so häufig aus dem Blick gerät.
Dr. Wolfgang Wessig fügte in seinen kurzen Abriss der Geschichte der Reportage und ihrer Bedeutung, die diese in der Literatur unseres Nachbarlandes seit ca. 150 Jahren besitzt, Beispiele aus den Werken der drei genannten Schriftsteller ein und nahm damit seine Zuhörer sofort gefangen. Die Detailtreue, die Einfühlsamkeit, mit der Situationen, Landschaften, Städte und Dörfer beschrieben wurden, auf deren Hintergrund Lebensläufe und Schicksale des vorigen Jahrhunderts und Haltungen in unserer Zeit geschildert werden, faszinierten. Ohne zu beschönigen, ohne die Ereignisse, die Verbrechen, die Verwirrungen der Umsiedlungen, die durch Diktaturen heraufbeschworen wurden, die Schwierigkeiten beim erzwungenen Ansiedeln in unbekannten Regionen zu verschweigen, blieben die Menschen im Mittelpunkt, die mit Zuneigung und Verständnis geschildert wurden.
Andrzej Stasiuk beschreibt seine Beobachtungen bei Reisen durch Albanien, den kleinen, oft aus dem Auge verlorenen Staat am Mittelmeer, der zeitweilig einen eigenen Weg zwischen den großen Blöcken versuchte. Dabei vermeidet er politische Urteile, verherrlicht, noch nimmt er eine herabwürdigende Haltung ein, selbst wenn er die Lebensweisen Jungendlicher auf Dörfern, gelangweilt an Tankstellen rumlümmelnd beschreibt. Er lässt über die Folgen nachdenken, die angesichts der Verstädterung Europas in den ländlichen Gebieten auftreten und rief damit folgerichtig in der anschließenden Diskussion Fragen nach Berufs- und Zukunftsaussichten in ländlichen Gebieten hervor, nach Vorbildern für junge Leute überall und nach sinnvollen Lebensmöglichkeiten.
Damit waren die Gesprächspartner in unserer eigenen Gegenwart angekommen und Ryszard Kapuscinskis Texte, von Wolfgang Wessig einfühlsam ausgewählt und beeindruckend vorgetragen, führte die Zuhörer mit seinen Wiener Vorlesungen unter dem Titel „Der Andere“ an eine der dringlichsten Aufgaben unserer Zeit : Wie wehren wir in Zukunft der Vereinsamung, die eben nicht nur im ländlichen Raum auftritt, sondern angesichts der immer größer werdenden Technisierung des privaten Lebens vor den nächsten Generationen – vor allem auch vor älteren Menschen in den Städten steht. Wie wird das Gespräch als Lebensform erhalten, das die Grundlage allen menschlichen Verhaltens bildet? Dass diese Frage Ryszard Kapuscinski bedrängte, der „ der beste Reporter der Welt“ genannt wurde und die Welt als seine Heimat wählte, zeigt die Kraft der Reportage, wenn nicht nur oberflächlich am Anderen vorbeigeeilt, sondern mit dem Herzen um Verständnis für ihn gerungen wird und das Gespräch miteinander nicht erlischt.

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