Der Lyriker las am Sonntag im Hoyerswerdaer Schloss vor einem ausverkauften Saalim Rahmen der 5. SÄCHSISCHEN LITERATURTAGE, Bericht in der Sächsischen Zeitung.

Reiner Kunze

„Mein Großvater war ein Steinkohlenbergmann, der tausend Meter tief unter der Erde arbeitete. Morgens, wenn die Sonne aufging, fuhr er ins Bergwerk ein, und abends, wenn sie unterging, fuhr er aus, sechs Tage in der Woche - vierzig Jahre lang. Einer der schönsten Augenblicke seines Lebens sei gewesen, als er habe nicht mehr einfahren müssen und an einem Wochentag plötzlich Sonne auf dem Brot gehabt habe.“ - Dieses Stück las Reiner Kunze am Sonntagvormittag im Hoyerswerdaer Schloss ziemlich zum Anfang seiner Matinèe. Als wolle der Tag diesem Text einen zweiten, ganz gegenwärtigen Sinn geben, riss draußen der graue Regenhimmel urplötzlich auf; Sonne flutete in goldgelben Strahlen, wie sie nur ein freundlicher Herbst hervorzubringen vermag - und die gut 140 Lyrik-Freunde, die der Schlosssaal kaum zu fassen vermochte, sie hatten Sonne auf dem Brot; einen Moment, der aus dem Alltag aufscheint und noch lange nachwärmt. Denn tatsächlich einen Moment nur schien diese Lesung zu währen,keine einzige entbehrliche Sekunde war in und zwischen Reiner Kunzes Texten zu finden.
Kunze, der bedeutendste lebende deutschsprachige Lyriker, hatte den Saal sofort für sich gewonnen. Keine langen Vorreden aus anderem Mund, nur Kunze selbst: „Ich bedanke mich für die Einladung in die Brigitte-Reimann-Stadt und freue mich, dass sie gekommen sind,“ Dann 90 Minuten Kunze (fast) pur. Tagebuch-Notate aus „Am Sonnenhang“ und anderen Schriften, wobei Humor nicht zu kurz kam; etwa wenn die Frage erörtert wurde, warum der Autor seine Gedichte vor Publikum lese. Einige Antworten: Vom Bücher-Schreiben alleine könne er nicht leben; auch fühle er sich verpflichtet, dem Verlag durch den erhöhten Absatz der Bücher bei Lesungen ein bisschen das Manko zu schmälern, das Lyrik-Veröffentlichungen heute immer mit sich brächten. Vor allem aber habe ein Gedicht, vorgetragen, einen ganz anderen, ganz eigenen Klang, durch den es eher zum Hörenden fände als nur beim Im-Buch-gelesen-Werden. Kunze ist sich auch treu geblieben in der Unduldsamkeit gegenüber dem Gedankenlosen, Niedrigen, Gemeinen. Szenen-Applaus, wenn er die amtlich geförderte Verluderung der deutschen Sprache benennt - und immer wieder Gedichte, die ihn in die Reihe der Weltweisen wie Lao-Tse, Ralph Waldo Emerson und Ernst Jüngers „Strahlungen“ stellen: „Teurer Rat: Nicht ratsam ist‘s, Verfall Verfall zu nennen - vor der Katastrophe“. Oder „Wollten wir das Anderssein der Welt begreifen, müssten wir andere sein.“
Mit Kunze kann man ein Stück Weg auf diesem Anders-Werden gehen - was mehr ließe sich über große Literatur Lobendes sagen?
Nicht vergessen sei die musikalische Umrahmung des Tages durch junge Hoyerswerdaer Virtuosen - durch Kira Potowski (fl) mit einer sehr schönen Variante von Dave Brubecks rhythmisch vertracktem Hit „Take Five“ sowie Max Ender (sax) und Andreas Wolf (p), die mit „Fly Me To The Moon“ ganz am Ende den Sechziger-Jahre-Standard aufklingen ließen, der auch in Brigitte Reimanns „Franziska Linkerhand“ eine Rolle spielt. So schloss sich der Kreis eines literarischen Vormittags, der „Sonne auf dem Brot“, Sonne auf der Seele war.
Ein Dank dem Kunstverein, der Hoyerswerda diesen Tag schenkte.

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