Hoyerswerda feiert den 75. Geburtstag der Autorin Brigitte Reimann, Christian Hunziker in der Neuen Züricher Zeitung

Vor 75 Jahren, am 21. Juli 1933, wurde die Schriftstellerin Brigitte Reimann geboren. In Hoyerswerda, wo sie ihre literarisch fruchtbarsten Jahre verbrachte, sind die Erinnerungen an die 1973 verstorbene Autorin des Romans «Franziska Linkerhand» mit Händen zu greifen.
Im Januar 1960 kam die junge Schriftstellerin Brigitte Reimann zusammen mit ihrem zweiten Ehemann Siegfried Pitschmann aus Burg (bei Magdeburg) nach Hoyerswerda. «Eigentlich», schrieb sie damals in ihr Tagebuch, «betrachte ich H. nur als eine Art Durchgangsstation, selbst wenn wir mehrere Jahre hierbleiben sollten. Richtig gern haben werde ich H. wahrscheinlich erst viel später, wenn ich mal darüber schreibe.»,
Neu aber nicht menschengerecht
Immerhin gut acht Jahre blieb Reimann in Hoyerswerda. Hier verfasste sie die Erzählung mit dem für die DDR-Literatur programmatischen Titel «Ankunft im Alltag», und hier schrieb sie einen Grossteil ihres bis heute viel gelesenen Romans «Franziska Linkerhand», in dem die Auseinandersetzung mit der Entwicklung Hoyerswerdas eine zentrale Rolle einnimmt. Neustadt heisst im Roman die Stadt, in der die Titelheldin, eine junge Architektin, um einen menschengerechten Städtebau ringt und dabei erkennen muss, dass ihr Traum, «Häuser, zu bauen, die ihren Bewohnern das Gefühl von Freiheit und Würde geben», sich nicht realisieren lässt. Neustadt heisst auch der ab 1957 in rasantem Tempo hochgezogene Stadtteil von Hoyerswerda, welcher der Unterbringung der Arbeiter des nahen Industriestandorts Schwarze Pumpe diente und in dem noch heute zahlreiche Erinnerungen an Reimann und ihre Romanfigur lebendig sind.
Zeitreise in die sechziger Jahre
Deutlich werden sie beim Stadtspaziergang, den Martin Schmidt, Vorsitzender des Kunstvereins Hoyerswerda, regelmässig anbietet. Der Rundgang beginnt vor einem vierstöckigen Wohnhaus in der Liselotte-Hermann-Strasse 20, wo Brigitte Reimann ihre ganze Zeit in Hoyerswerda wohnte; ein bescheidenes Schild am Hauseingang erinnert an sie.
Nachvollziehen lassen sich die Lebensumstände der Autorin im Nachbarhaus, wo eine Zweizimmerwohnung, die den gleichen Grundriss hat wie das originale Logis, als Brigitte-Reimann-Begegnungsstätte gestaltet ist. Möbel und persönliche Gegenstände lassen die Besucher eine Zeitreise in die sechziger Jahre unternehmen. Zu sehen ist zum Beispiel ein Druck des Künstlers Karl Hofer, den Brigitte Reimann Martin Schmidt und dessen Frau Helene schenkte, als sie 1968 Hoyerswerda Richtung Neubrandenburg verliess.
Die Schmidts waren eng mit der Autorin befreundet. Martin 'Schmidt, der als Theologe im Braunkohletagebau arbeitete, gründete 1966 einen Freundeskreis der Künste-und der Literatur, den heutigen Kunstverein. Dieser lud namhafte Schriftsteller zu Lesungen ein und organisierte Ausstellungen bedeutender Künstler. Daraus entstand der Kontakt zu Brigitte Reimann, die sich, wie Schmidt erzählt, in Hoyerswerda einsam fühlte und gern die Gelegenheit wahrnahm, sich mit kulturinteressierten Menschen zu unterhalten. Ehrlichkeit, Engagement und Bescheidenheit hätten ihn an der Freundin am meisten beeindruckt. So habe sie sich manchmal am Sonntag nicht getraut, bei den Schmidts zu klingeln, weil sie Kinderstimmen gehört und befürchtet habe zu stören - ein überraschender Charakterzug bei einer Frau, die keine Angst davor hatte, öffentlich Stellung zu beziehen und damit bei den Mächtigen anzuecken.
Zeugnisse von Zeitgenossen
Heute Schmidt, der im vergangenen Jahr von Bundespräsident Horst Köhler mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet wurde, die treibende Kraft, wenn es darum geht, die Erinnerung an Brigitte Reimann zu wahren. Zum 75. Geburtstag der Autorin gibt er zusammen mit seiner Frau ein umfangreiches Buch mit Erinnerungen von Zeitzeugen heraus, und der Kunstverein schrieb einen Wettbewerb aus, in dessen Rahmen Schülerinnen und Schüler das Werk Reimanns auf seine heutige Bedeutung hin befragten. Nicht weniger als 56 Beiträge seien eingereicht worden, sagt Schmidt freudig. Vergleichsweise bescheiden, nimmt sich dagegen das Engagement der Stadt aus. Zwar firmiert Oberbürgermeister Stefan Skora als Schirmherr der Veranstaltungsreihe zum 75. Geburtstag der Autorin. Auf der Website der Stadt aber muss lange suchen, wer einen Hinweis auf Brigitte Reimann finden will. Dabei kommen schon jetzt viele Literaturinteressierte wegen Reimann nach Hoyerswerda. Tatsächlich lässt sich der Roman «Franziska Linkerhand» beinahe als Reiseführer lesen, da die Autorin ihr Umfeld in Hoyerswerda ohne grosse Verfremdung literarisch verarbeitete. So kommt man auf dem von Schmidt geführten Spaziergang zum Beispiel beim mittelalterlichen Schloss vorbei, in dem die Romanheldin mit dem Ortschronisten über die Zeit der Entstehung des Gewölbesaals debattiert, aber auch bei der Gaststätte im damals neu errichteten Wohngebiet, in der die Romanheldin ihre unglückliche Freundin Gertrud vom Trinken abzuhalten versucht.
Schrumpfende Stadt
Die Gaststätte freilich ist schon lange geschlossen, und auch sonst fällt ins Auge, dass von der Aufbruchstimmung, die vor fast fünfzig Jahren Brigitte Reimann, die Schmidts und viele andere nach Hoyerswerda führte, wenig übrig geblieben ist. Am Stadtrand sind die zum Abriss vorbereiteten Plattenbauten unübersehbar, und selbst der grosse Platz vor dem Einkaufszentrum im Herzen der Neustadt ist am Samstagnachmittag fast menschenleer.
71 000 Einwohner zählte Hoyerswerda auf dem Höhepunkt der Braunkohleverarbeitung Anfang der achtziger Jahre; mittlerweile sind es noch 40 000. Mit dem Abriss von Wohnblöcken und dem Umbau zu seniorengerechten Wohnungen reagieren die Verantwortlichen der Stadt auf die Entwicklung - doch die Aussichten sind düster. Bis zum Jahr 2020 sagen die Statistiker einen Rückgang der Einwohnerzahl auf unter 30.000 voraus.
Trotzdem hält Martin Schmidt an seiner Liebe zu Hoyerswerda fest. Dabei sieht er sich in Einklang mit der 1973 an Krebs verstorbenen Brigitte Reimann und ihrer Romanfigur ,Franziska Linkerhand: Die Stadt Hoyerswerda, sagt er, sei eine Aufgabe, deren Bewältigung Phantasie und Zuneigung erfordere - und sie habe Zukunft. Dem Besucher aber will die Passage aus Reimanns Tagebuch von 1968 nicht aus dem Kopf gehen, die Helene Schmidt beim Spaziergang auf dem zentralen Platz der Neustadt vorgelesen hat: «Merkwürdig, wie man sein Herz an diese öde Landschaft gehängt hat, an diese unmögliche Stadt. (...) Die Kohle geht zu Ende, vielleicht ist Hoyerswerda in zwanzig Jahren eine Geisterstadt wie die verlassenen Goldgräbersiedlungen.»

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