Wer lehrte mich, was ich vergaß?

Jürgen Israel erinnert beim Hoyerswerdaer Kunstverein an Johannes Bobrowski, Januar 2016Jürgen Israel, Berlin, erinnert an Johannes Bobrowski (1917-1965), dessen Todestag sich 2015 zum 50.Mal jährte. 2016 beim Hoyerswerdaer Kunstverein.

Es ist eine ungewöhnliche Sprache, die uns in der Prosa und in der Lyrik von Johannes Bobrowski begegnet, selbst seine Erzählungen vermitteln den sprachlichen Rhythmus eines Gedichts. Ungewöhnlich deshalb, weil der Dichter beinahe aus der Sicht des Lesers erzählt: "Bin ich das? Werde ich gerufen?..." wer von beiden ist gemeint? Die Sätze sind dem Roman "Litauische Claviere" entnommen. Womit wir auch gleich beim Hauptthema von Johannes Bobrowski wären: die durch Krieg und Völkermord vernichtete Landschaft in Ostpreußen, die heute zu Litauen und Russland gehört, vernichtet in all ihren Traditionen von Einklang zwischen Mensch und Natur, von Polen, die deutsche Namen haben, von Deutschen, mit polnischen Namen, von Litauern, Russen und Juden. Die Landschaft an der Weichsel in der Nähe der Ostsee.
Johannes Bobrowski wurde 1917 in Tilsit geboren, er besuchte das Gymnasium in Königsberg, dem heutigen Kaliningrad, 1936 wird er Mitglied der Bekennenden Kirche, 1939 bis 1945 ist er im Zweiten Weltkrieg Gefreiter in einer Nachrichteneinheit, studiert dazwischen Kunstgeschichte in Berlin, kommt von 1945 bis 1949 in sowjetische Kriegsgefangenschaft und beginnt danach als Lektor in ostdeutschen Verlagen zu arbeiten. Nebenbei schreibt er Bücher und Gedichte. Und diese werden in Ost und West gleichermaßen verlegt und geliebt. Dazu gehören die Gedichtbände "Sarmatische Zeit" und "Schattenland Ströme", die Romane "Levins Mühle" und "Litauische Claviere" sowie mehrere Erzählbände.
Selbst Schriftstellerkollegen wie Anna Seghers, Stefan Hermlin, Georg Maurer, Bernd Jentzsch, Sarah Kirsch und Kito Lorenz bewundern seine poetischen Bilder, die er in die ihm eigene Sprache umsetzt, sie nennen das den "Bobrowski-Sound" und so wurde Johannes Bobrowski für viele nach ihm zum Vorbild, so wie er selbst einst bei Hölderlin und Klopstock in die Lehre ging.
Jürgen Israel wählte Gedichte und Textstellen mit viel Gespür aus, so, dass der Leser gemeinsam mit dem Dichter über die Frage nachdenkt: Wer lehrt uns ein moralisches Leben?
Bobrowskis Fazit: Das kann nur der Mensch, der liebt, Liebe ist gegenwärtige Heimat, Vergeltung oder Hass stehen nicht zur Verfügung, ebenso nicht Trauer und Wehmut um die verlorene Heimat, denn diese gibt es nicht mehr. Er wird das, was es nicht mehr gibt, in Worten bewahren. "Hingehen, das geht nicht mehr. Hingehen geht nicht... Herrufen, hierher. Wo wir sind." In die Erinnerung. Das geht. Und das tut er. Er setzt sich und uns mitten in das vergangene Geschehen hinein wie etwas Gegenwärtiges, das auch eine Zukunft hat, die Zukunft im Nicht-Vergessen. Jede seiner Figuren umhüllt er mit dieser dichterischen Liebe, den deutschen Großvater in "Levins Mühle", der mit List und Tücke die Mühle seines jüdischen Konkurrenten Levin weggeschwemmt, ebenso wie Levin den Geschädigten, Habedank mit Tochter Marie, Weiszmantel, Krolokowski und viele andere. Der Jude Lewin ist am Ende der Unterlegene nach dem Gesetz, moralisch aber der Sieger.
In der Erzählung "Mäusefest", die Jürgen Israel vorstellt, ist diese Haltung am eindrucksvollsten zu erleben. Ein blutjunger deutscher Soldat kommt nach dem Überfall der Deutschen auf Polen in den leeren Laden des Juden Moise. Das Wissen um Macht und Machtlosigkeit schwebt zwischen diesen beiden Männern in diesem von Mondlicht durchfluteten Raum. Moise beobachtet, wie jeden Abend, die Mäuse beim Tanz um das Brot, das er ihnen gibt. Dieses beinahe mystische Geschehen zwingt den Soldaten zum faszinierten Hinschauen. Ohne dass ein Wort fällt, verlässt er den Raum. Moise aber weiß in diesem Moment, dass er den Zorn seines Gottes auf sich geladen hat, weil er diesen "Feind" nicht hassen kann.
Hoyerswerdaer Kunstverein 2016, Lesung zu Johannes BobrowskiDoch wer lehrte den Dichter Bobrowski, das so eindringlich mit Liebe zu benennen, was nicht mehr da ist? Es sind die Vögel im Flug, der grüne Strom, der rötliche Fels, der Gott, der ihn ruft und Geduld lehrt. So zu erfahren in dem Gedicht "Immer zu benennen: ...Zeichen, Farben, es ist/ ein Spiel, ich bin bedenklich,/ es möchte nicht enden/gerecht... Wär da ein Gott/ und im Fleisch,/ und könnte mich rufen, ich würd/ umhergehn, ich würd/ warten ein wenig." Es ist auch der "Mahner", ein stiller Mann in der Stadt Königsberg, der, als er als geistig minderwertig von den Hitlerleuten abgeholt wird, ihnen seinen Spruch zuruft: Haltet Gottes Gebote! Aber das tun sie nicht.
Kurz vor seinem Tod im Jahr 1965 schrieb Johannes Borowski sein berühmtes Gedicht "Das Wort Mensch:  ...Wo Liebe nicht ist/ sprich das Wort nicht aus."
Dies könnte auch als Credo für diesen außergewöhnlichen Dichter und Humanisten gelten, der heute viel zu selten im Fokus der Öffentlichkeit steht. Gut, dass Jürgen Israel an ihn erinnerte.

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