In der Zeit hinter der Zeit

Eine Lesung der Dichterin Róža Domašcyna (*1951), Bautzen, beim Hoyerswerdaer Kunstverein.

Róža Domašcyna liest 2021 beim Hoyerswerdaer Kunstverein „W ćasu zeza ćasa“, das ist der sorbische Titel eines der neuen Gedichtbände von Róža Domašcyna. Er vereint Gedichte, die das Heute beleuchten, indem sie die „Zeit hinter der Zeit“ aufleben lassen, wissend, kritisch und liebevoll.
In diesem Bändchen erfährt der Leser auch, wie die Natur, „nachdem das Feuer nachgelassen hat", sich wieder erholt, „wenn die kruste soweit abgekühlt ist, rollt sich der stachelhalm wieder aus… die katzenbeine der immortellen werden dem baldrian nachsteigen und dieser wird sich entscheiden müssen, in welcher sprache er katzenkraut genannt werden will… und der ziegenbart wird sich entscheiden müssen, in welcher sprach er rittersporn genannt werden will und beide werden es wieder offen lassen…“
Der Wechsel zwischen der sorbischen und der deutschen Sprache und die Suche nach Unterschieden und Gemeinsamkeiten in beiden ist ein Markenzeichen von Róža Domašcyna. Sie lebt in der zweisprachigen Oberlausitz und sorgt mit ihrer Dichtkunst dafür, dass das Sorbische auch im Alltag Normalität behält und nicht als Fremdsprache begriffen wird. Inzwischen ist sie weit über die Grenzen der Lausitz und Deutschlands hinaus für ihre unverwechselbare lyrische Sprache bekannt.
Metamorphosen, Verwandlungen und Wendungen werden bei ihr zu Hinwendungen, ein liebevolles Zuwenden zu den kleinsten Dingen, zu nur angedeuteten Gefühlen und zu unscheinbaren Ereignissen, bei ihr werden sie wichtig, das eine wie das andere. So auch zu hören in dem Gedicht „Das bild dahinter“, gewidmet einer Malerin, die sich hinter ihren Farbfächer zurückzieht, um vordergründig zu sein. „Sie hält es in der hand: das all.“ Sie macht sichtbar, was verstanden werden soll, die Dinge hinter den Dingen.
Wenn sie einem Gedichtband den Titel „Stimmen aus der Unterbühne“ gibt, denkt Róža Domašcyna nicht an Theater, sondern an einen „authentischen Nachhall in einer verlassenen Maschinehalle“ im Braunkohlenrevier, das seit Jahrhunderten für Strom und Wärme sorgt, aber auch dafür, dass Dörfer von der Landkarte verschwinden, abgebaggert und vergessen werden. Ein leidvoller Nachhall aus der Zeit vor der Zeit, als man begann umzudenken.
Ebenso eindringlich liest sich bei ihr ein Spaziergang im abgelassenen Vorstau der Talsperre Bautzen, die als Trinkwasserspeicher für die Stadt dringend notwendig war, verbunden mit einem hohen Preis. Alle 20 Jahre wird der Vorstau abgelassen und gereinigt und dann sieht man die Reste der ehemaligen Behausungen, kann das Vieh an den Trögen fressen hören, dem Lärm der Traktoren und dem Klang der Posaunen und Schalmeien nachlauschen, die Sägen hören, die hundert Jahre alte Linden absägen, „wir gehen im zeitmaß über fremde scherben wegwärts“.
Die Lyrik der Róža Domašcyna wird ganz nebenbei zu einem Mahnruf, der den Kern eines noch so unscheinbaren Geschehens trifft, zum Politikum wird, auch zu einem Appell, die Zeit nach unserer Zeit für die nächste Generation lebenswert zu erhalten.
Über ihren eigenen Lebensweg sagt sie in dem Gedicht „Kerne in der Schachtel“:
Bin aus unseren dörfern gekommen/die sprache habe ich mitgenommen/keiner wollte sie verstehen/sie haben zu meiner sprache geschwiegen/sie haben über die sprache gelacht/sie haben gesagt: lass sie im halse stecken/sie haben gesagt: es gibt bessere sprachen/jedes wort habe ich bis auf den kern abgenagt/die kerne anschließend ausgespuckt/kehre die kerne auf, haben sie gesagt/ich hab sie in eine schachtel getan/den deckel draufgelegt und angeklebt/hab nun wortkerne in der schachtel/wenn du sie schüttelst kannst du sie hören/die kernworte.
Dank an Róža Domašcyna für diesen wundervollen Abend.

 

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