Ein linksschreibender Rechter und Stilist von höchstem Rang

Friedrich Sieburg „Die Lust am Untergang“. Collage / Sammlung / Foto: Uwe JordanBeim Kunstverein Hoyerswerda wird Friedrich Sieburgs „Lust am Untergang“ von Uwe Jordan gelesen.

Optimismus ist es wohl kaum, wenn Friedrich Sieburg im Essay „Die Kunst, Deutscher zu sein“ schreibt: „Es ist für einen humanistisch gestimmten Menschen unmöglich, in Deutschland glücklich zu sein. Aber es ist ihm ebenso unmöglich, dies Land zu verleugnen und es wie der kleingläubige Apostel zu halten, der ausrief: «Ich kenne diesen Menschen nicht.».“
Wer ist nun dieser Friedrich Sieburg – und wann schrieb er Obig-sehr-Heutiges? Alle Versuche, Friedrich Sieburg in einem Satz zu charakterisieren, zu fassen gar, gehen fehl. Zu vielfältig, komplex und widersprüchlich sind Leben und Wirken des am 18. Mai 1893 im nordrhein-westfälischen Altena geborenen und am 19. Juli 1964 im badensisch-württembergischen Gärtringen verstorbenen Literaten.
Von 1923 bis 1932 Auslandskorrespondent für die Frankfurter Zeitung, war er bürgerlich-liberal; engagierte sich für ein Querfrontbündnis von links bis rechts, um einen Kanzler Hitler zu verhindern. Andererseits schloss er 1932 sein Buch „Es werde Deutschland“ ab, dem sein Freund, der Dramatiker Carl Zuckmayer, später attestierte, Sieburg habe sich damit auf einer „sehr gefährlichen und ganz verschwommenen Grenze zwischen Nationalismus, Kritik des «liberalen Denkens» und politischer Progressivität“ bewegt. Das Buch konnte erst im nationalsozialistisch gewordenen Deutschland erscheinen, wurde aber, wieder ein Andererseits, umgehend, 1936, verboten, weil Sieburg darin deutlichst den Antisemitismus ablehnte.

Einerseits – und viele Andererseits

In der englischen Übersetzung des Buches hinwiederum bekannte sich Sieburg zum Nationalsozialismus, andererseits missbilligte er in Briefen an den Verleger der Frankfurter Zeitung, Heinrich Simon, die „Macht-Ergreifung“. Noch ein „Andererseits“ folgte: 1939 wurde Sieburg in den deutschen Auswärtigen Dienst berufen und im Rang eines Botschaftsrats von 1940 bis 1942 im besetzten Frankreich tätig. Nach einem erneuten Intermezzo bei der Frankfurter Zeitung bis zu deren Verbot im Jahre 1943 ging er zur Börsenzeitung und war für das Auswärtige Amt „Ehrenbegleiter“ von Henri Philippe Pétain. Auch eine höchst ambivalente Person, jener Marschall Petain, der im I. Weltkrieg als „Held von Verdun“ wesentlichen Anteil an Deutschlands Niederlage hatte – aber 1940 das mit Nazi-Deutschland kollaborierende „Vichy-Frankreich“ führte und dafür 1945 zum Tode verurteilt, jedoch zu lebenslanger Freiheitsstrafe begnadigt wurde.

Erstaunliche Nachkriegs-Karriere

Da hatte es Sieburg besser getroffen. Zwar wurde er nach dem Krieg von der französischen Besatzungsmacht mit einem Publikationsverbot bis 1948 belegt und begann danach ganz bescheiden als Mitarbeiter der Wochenzeitschrift „Die Gegenwart“. Doch schon das Jahr 1949 sah ihn als Mitherausgeber des Blattes. 1953 ernannte ihn das Land Baden-Württemberg zum Professor, 1956 wurde er ordentliches Mitglied der Akademie der Künste Berlin – eine erstaunliche Karriere, die ihm die Bundesrepublik ermöglichte. Was ihn nicht davon abhielt, ebenjene Bundesrepublik, Deutschland also, schärfstens zu kritisieren; vor allem im Band „Die Lust am Untergang“ von 1954, aus dem das anfängliche Zitat stammt.
Mehr noch: Seit 1956 für die Frankfurter Allgemeine Zeitung tätig, war er bis zu seinem Tode einer der bedeutendsten Zeit- und Literaturkritiker Deutschlands. Seine Publizistik wurzelte in der Erkenntnis mangelnder deutscher Nationalidentität. Dem wollte er mit Kritiken und Essays (französisch für „Versuche“ oder „Gedanken-Experimente“) den Entwurf einer geistigen Nationalgeschichte entgegenstellen.
Der Journalist Klaus Harpprecht, der ihm seine Verirrungen im Nationalsozialismus streng vorwirft, bescheinigte dennoch, für Sieburg habe sich im Nachkriegsdeutschland die heraufziehende Barbarei im Verfall der Sprache angekündigt. Das deutsche Bürgertum könne in seinen geistreichen Schriften viele Wahrheiten entdecken und sich in ihnen wiederfinden.
„Kritiker-Papst“ Marcel Reich-Ranicki lobt den Stilisten: Sieburg habe melodisch und exakt geschrieben und eine ungewöhnliche Vorliebe für das Saloppe wie für die würdevolle, etwas antiquierte Ausdrucksweise gehabt. Trotz gelegentlicher Larmoyanz sei er „wohl der geistreichste, ja der beste deutsche Feuilletonist der frühen Nachkriegszeit“. Schöngeist Fritz J. Raddatz erklärte Sieburg gar zum „einflussreichsten Kritiker der Nachkriegszeit“.
Der Publizist Wolf Jobst Siedler nannte Sieburg, nun doch ein treffender Ein-Satz-Beschreibungs-Versuch, „linksschreibenden Rechten“. Er habe dem Klischee nicht entsprochen, dass Konservatismus stumpf oder bieder sein müsse, während Witz und geistvolle Ironie Sache der Linken seien. Sieburg habe den Schriftstellern, die ihn verabscheuten, „den Witz entwendet“, was ihn zur Gegenfigur der deutschen Nachkriegsliteratur, speziell der „Gruppe 47“ gemacht habe. Und nun noch ein „Andererseits“: Er sei ein linker Literat, der rechts schreibe. Auf der Gegenseite gebe es keinen Kritiker von seinem Rang, was den Zorn der Gegner auf ihn nur erhöhe.

Zugriffe: 1233