Weltgeschichte, entschieden in einem Augenblick

Uwe Jordan stellt sprachlich die versäumte Minute des Marschall Grochy nach.Uwe Jordan stellt Stefan Zweig (1881-1942) vor und seine Miniaturen aus den "Sternstunden der Menschheit".

Immer sind Millionen Menschen nötig. damit ein Genius entsteht, immer müssen Millionen müßige Weltstunden verrinnen, damit eine wahrhafte Sternstunde der Menschheit in Erscheinung tritt; unter diesem Motiv sucht und schreibt Stefan Zweig 14 Miniaturen zu Ereignissen der Weltgeschichte, die deren Lauf maßgeblich beeinflussten. Es sind nicht nur glückliche Momente, von denen zu hören ist. Immer aber sind es schicksalsträchtige Stunden, oft nur wenige Minuten, in denen eine zeitüberdauernde Entscheidung getroffen wird, immer sind es (leider nur!) Männer mit außergewöhnlichen Fähigkeiten in außergewöhnlichen Situationen, die einen Wendepunkt der Geschichte herbeiführen. Man erlebt diese in der Sprache Stefan Zweigs, die einen unübertroffenen Reiz ausübt, Sprache wie von Musik untermalt, genau und knapp pointiert, psychologisch extrem tiefgründig.
Uwe Jordan gibt einen kurzen Überblick über die einzelnen Miniaturen, von Goethe, Händel, Dostojewski, Tolstoi, Robert Scott und Lenin ist die Rede, von der Entdeckung Eldorados, von der Eroberung Konstantinopels und von der Marseillaise, last not least auch von Waterloo.Die Miniatur "Die Weltminute von Waterloo" hatte er gewählt, weil just an dem heutigen Tag, dem 18. Juni 1815, vor 200 Jahren diese Schlacht in Belgien die Geschicke Europas veränderte. Napoleon war ja eigentlich schon 1813 in der Völkerschlacht bei Leipzig ein geschlagener Kaiser und Feldherr und man hatte ihn nach Elba verbannt. Der Kongress in Wien aber tagte noch immer "zwischen Tanz, Liebschaften und Intrigen", als die Nachricht eintrifft, Napoleon sei aus Elba ausgebrochen, nach Paris geeilt und sei mit einem Heer unterwegs, Europa erneut zu erobern. Jetzt sind sich die anwesenden Minister zum ersten Mal einig, englische, österreichische, russische und preußische Truppen werden in Eile aufgeboten und Napoleon entgegen geschickt. Sie treffen in Belgien aufeinander. Uwe Jordan weist an dieser Stelle auf eine möglicherweise versäumte Sternstunde von Hoyerswerda hin, als Napoleon am 28. Mai 1813 im Schloss speiste, bewacht von den braven Bürgern der Stadt. Bei Brigitte Reimann ist davon in "Franziska Linkerhand" folgendes zu lesen: "Wenn sie ihn verhaftet hätten, sagte Kubitz, bedenken Sie, die Weltgeschichte hätte eine andere Wendung genommen, aber unter uns gesagt, Neustadt lag schon immer hinterm Mond."
Doch zurück nach Waterloo. Napoleon wusste, nur wer schnell ist und den anderen überrascht, kann gewinnen. Das preußische Heer unter Blücher hatte er auf diese Weise bereits in die Flucht geschlagen, nun sollte das englische Heer unter Wellington ähnlich überrumpelt werden. Da zu befürchten war, dass Blücher zu Wellingtons Verstärkung zurückkommen würde, schickte er Marschall Grochy und einen Teil seiner Armee den flüchtenden Preußen hinterher, um sie vom Schlachtfeld fern zu halten. Und genau dieser Marschall Grochy versäumt seine Sternstunde, weil er die Preußen nicht findet, im Dauerregen und Matsch aber weiter nach ihnen suchen wird, obwohl zu hören ist, dass die Kampfhandlungen begonnen haben und er zurückkehren müsste, aber er zögert und folgt weiter dem Befehl des Kaisers. Blücher hatte ihn getäuscht und kämpft nun bereits am Schlachtfeld neben Wellington.
"...mit einem Mal ist es von drüben, vom Schlachtfeld her, vollkommen still geworden. Beängstigend stumm, grauenhaft friedlich, ein grässliches , totes Schweigen... Die Schlacht muss entschieden sein." ist jetzt bei Zweig zu lesen. Die Nachricht: Es gibt keinen Kaiser mehr, Frankreich sei verloren, erreicht nun auch Grochy . "er steht bleich und stützt sich auf seinen Säbel..." Der Leser erwartet fast, dass Grochy den Säbel nun gegen sich selbst richten wird, doch in diesem Moment fällt ihm ein, dass auch das Leben seiner Soldaten auf dem Spiel steht und er besinnt sich seiner Fähigkeiten und führt mitten durch die fünffache Allianz des Feindes seine Truppen zurück nach Paris, ohne eine Kanone, ohne einen Mann zu verlieren und rettet so für Frankreich ein letztes kleines Heer.
Zweigs Bewunderung gilt dem Genius, dem Kühnen und Waghalsigen, der die Zeiten überglänzt. In dieser Erzählung allerdings steht dem Genius Napoleon der zögernde, gehorsame Grochy gegenüber, der seine Schicksalsstunde versäumt und der ein Leben lang daran leiden wird, obwohl er später wieder in hohen militärischen Ämtern tätig ist.

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