Das Kamingespräch „Amok in Erfurt".

Ines Geipel

Als überaus zugkräftig erwies sich das nachgeholte „Gesprächs am Kamin" des Hoyerswerdaer Kunstvereins mit Ines Geipel zu „Amok in Erfurt", das bei seiner ersten Ansetzung hatte krankheitshalber ausfallen müssen:
Der Kleine Festsaal des Schlosses war nahezu bis zum letzten Platz gefüllt. Lehrer, Schüler, Literaturinteressierte und Kommunalpolitiker fanden sich zu lebhaftem Gedankenaustausch zusammen.
Dazu hatte Ines Geipel, Professorin für Sprachkunst an der Schauspielschule „Ernst Busch" (Berlin), mit dem Vorstellen ihres Buches „Für heute reicht’s" eine herausfordernde Grundlage gegeben; Sie las wenige markante Stellen und erzählte viel mehr zur Geschichte des Buches: Zum Versuch ihrer Studenten, die das Erfurter Gutenberg-Gymnasium besucht hatten, jenes furchtbare Ereignis aufzuarbeiten. Zum Verhalten der Bürger, der Zeugen, der Betroffenen in der Stadt und der politisch Verantwortlichen. Nach Gesprächen mit diesen Partnern, die Ines Geipel ein Jahr hindurch gerührt hatte, hätte der Titel des Buches viel eher „Das haben Sie aber nicht von mir" lauten müssen, sagte sie. Die Gesprächspartner berichteten zwar freimütig; ließen ihre Sorgen, ihren Kummer und ihre Unzufriedenheit darüber erkennen, dass sie keine Antwort auf ihre Fragen, keine Betreuung für ihre Trauer erhielten. Sie waren aber nicht bereit, mit ihrem Namen genannt zu werden. „Ein großes Trauma liegt über der Stadt, über den Betroffenen", meinte Ines Geipel. „Es wird nicht durch Schweigen gelöst. Zu viele Fragen sind ungeklärt geblieben.“ Etwa, ob Robert Steinhäuser ein Einzeltäter war. Oder warum die Klagen wegen unterlassener Hilfeleistung nicht behandelt wurden, obwohl die Zeiten vor dem Eingreifen der Sicherheitskräfte und Mediziner unerklärbar-unverantwortlich lang waren.
Fragen und nicht Anklagen
Jährlich würden eine Million Waffen in Deutschland gekauft, 25 Millionen Schusswaffen befänden sich im Privatbesitz. Diese Zahl berge große Gefahren in sich.
Das Anliegen ihres Buches sei daher das Fragen, nicht das Anklagen. Politik sei gefordert, Änderungen zu machen - aber da sei nichts Konkretes zu erfahren. In der Gesellschaft beobachte sie, dass die Grenzziehung zwischen Leben und Tod bei Jugendlichen nicht mehr deutlich sei. Mit Sonntagsreden werde da nichts geändert. Eine „permanente Konferenz der Gesellschaft" müsse Antworten finden, da Lehrer, Schüler, Eltern - jeder für sich allein - überfordert seien.
Der Abend wuchs sich zu einem Gespräch aus, das von den Tendenzen des Fernsehens zu „Reality-TV", zur Verflachung, zum Ausweichen auf Lapidares bis zu Erziehungsfragen oder den Sorgen Jugendlicher um Gespräch, um Verständnis und Umgang mit anderen Völkern reichte. Das Erfurter Ereignis wurde Anlass, über die Zukunft, über das Miteinander, über neues Entdecken, Fördern und Führen s Dialogs nachzudenken. Ohne solche Begegnungen, ohne Anregung, ohne das Ansprechen offener Fragen wüchse das Trauma, so die übereinstimmende Meinung und Sorge: All dem gelte es zu wehren.
Ines Geipel: „Für heute reicht's - Amok in Erfurt", Rowohlt Berlin Verlag, Berlin 2003, ISBN 3871344796

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