Einer, der das Staunen der Kindheit bewahren möchte

Rainer Gruß, Theaterschauspieler aus Bautzen, liest Kurzgeschichten von Thomas Rosenlöcher(*1947),veröffentlicht unter dem Titel: Liebst du mich, ich liebe dich.

Rainer Gruß liest beim Hoyerswerdaer Kunstverein, 2018Es sind Kurzgeschichten, die noch kürzer sind als ihr Name ohnehin schon verrät, die Thomas Rosenlöcher schreibt und die Rainer Gruß beim Hoyerswerdaer Kunstverein vortrug. Geschichten, die scheinbar bei Adam und Eva beginnen und dort verweilen, für die eine Vertreibung aus dem Paradies nicht stattfindet, eine Vertreibung aus dem Paradies der Kindheit. Es ist zu hören von einem Mann, der noch an den Klapperstorch glaubt und der den Storch mit Zucker an seinem Fensterbrett anlocken möchte, um ein Kind zu bekommen. Der resoluten Nachbarin erscheint er als lächerliche Person, solange bis das Blatt sich wendet und sie beide ein Kind bekommen, sie ist erstaunlich sanft geworden und ihm ist das alles noch immer unbegreiflich und wunderbar. 
Ähnliches ist zu hören von einem Mann, der sich die Frage stellt, wie das Kind in die Frau kommt, als er in einem wissenschaftlichen Lehrbuch einen weiblichen Körper sieht mit einem Embryo darin, wobei übrigens die Frau in dieser Darstellung besonders ungünstig aussieht. Gemeinsam mit weiteren Lehrbüchern und einer jungen Frau findet er heraus, wie man zu einem Kind kommt. Als Paar werden sie von der Natur gleich doppelt mit einem Wunder beschenkt, ein Robert und eine Roberta werden geboren. 
Thomas Rosenlöcher, geboren 1947 in Dresden ist ein Meister einer liebenswerten Naivität, die verzaubert. Sein wesentliches Betätigungsfeld allerdings die Lyrik. Da genügen ihm wenige Zeilen, um eine Wirklichkeit aus Wörtern zu bauen, eine Wirklichkeit, die immer ein bisschen märchenhaft erscheint. Für diese Art von Literatur ist Rainer Gruß als Vortragender besonders geeignet, mit nur wenigen Nuancen in der Stimme gibt er den Kurzgeschichten von Thomas Rosenlöcher eine phantastische Klangwirkung. 
Besonders zur Entfaltung kommt das in der Titelerzählung des Buches "Liebst du mich, ich liebe dich." Zwei verlieben sich und heiraten kurz darauf, ihr Hochzeitszimmer ist ein blühender Kirschbaum, dem Blick der Außenwelt verborgen. Doch allmählich braucht man eine Wohnung, wenn auch klein, dann braucht es ein Himmelbett, ein Spülklosett, eine Badewanne, einen Herd, etwas Kultur mit einer Kuckucksuhr, etwas Geistiges, das heißt einen Whisky pur, man braucht eine Vitrine und, und, und. Am Ende ist die Wohnung so verstellt, dass sich Mann und Frau nicht mehr sehen können. Da sägen sie alles kurz und klein. Bist Du es fragen sie sich, als sie sich wieder wahrnehmen können? Sie heirateten aufs Neue und der Kirschbaum wird wieder ihr Zuhause. Der Erzähler stand darunter und "war ganz von Blüten beschneit". 
Thomas Rosenlöcher
erhielt bereits viele wertvolle Literaturpreise, darunter den Kunstpreis der Landeshauptstadt Dresden, den Strittmatter Preis, den Hölderlin-Preis und die Ehrengabe der Deutschen Schillerstiftung. Mit seinen schlichten Erzählungen, die vollkommen ohne Dramatik auskommen, erinnert er daran, wie wertvoll es ist, das Staunen der Kindheit im Alter nicht zu verlieren.

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