Mit der Gesellschaft nicht konform

Heinrich Böll (1917-1985) zum 100. Geburtstag - eine Lesung mit Uwe Jordan beim Hoyerswerdaer Kunstverein

Uwe Jordan liest Heinrich Böll, 2017Der Literaurnobelpreisträger Heinrich Böll, geboren am 21.Dezember 1917 in Köln, würde in diesem Monat 100 Jahre alt werden. Es gehört beinahe zum guten Ton, an runden Jahrestagen berühmter Persönlichkeiten an diese zu erinnern. Bei Heinrich Böll allerdings ist es jederzeit geboten, seine Romane und Erzählungen zu lesen. Sie sind aktuell wie eh und je.
Das zeigte Uwe Jordan, Journalist und Literaturexperte, einmal mehr mit einer brillanten Lesung von Bölls Satiren: "Der Wegwerfer" und "Doktor Murkes gesammeltes Schweigen". Ein literarischer Hochgenuss, aber nicht nur heiter, sondern auch zutiefst bestürzend. In allen Romanen und Erzählungen begegnet uns unverkennbar diese melancholisch bittere Erzählweise Bölls, die in seinen Satiren zur Hochform aufläuft.
Die Protagonisten, denen Böll eine Stimme gibt, sind von der Gesellschaft Vergessene und Entwürdigte oder solche, die mit dem Zeitgeist nicht konform gehen wollen.
"Der Wegwerfer" ist ein gebildeter Mann, dem das Leben die Würde genommen hat, der seinen Beruf, wenn er ihn denn nennen müsste, als Wegwerfer bezeichnen würde, da seine Tätigkeit nur darin besteht, Post im Keller eines großen Konzerns vor zu sortieren. Von täglich drei großen Postsäcken fällt der Inhalt fast vollständig dem Altpapier zum Opfer, nur ein kleiner Teil in Form von Briefen geht an die einzelnen Abteilungen.
Welch eine Verschwendung von Papier, von geistigen und künstlerischen Ressourcen für ein Produkt, das ungelesen im Abfall verschwindet? Den Aufwand für Herstellung und Vernichtung hatte unser Wegwerfer akribisch ermittelt und durch komplizierte Formeln belegt, die Ergebnisse hätten Wirtschaftexperten alarmieren müssen. Tun es aber nicht. Ein weiteres Feld, dem sich der Wegwerfer widmet, ist das Verpackungsmaterial. Mit der Stoppuhr misst er das Auspacken eines Nervenstärkungsmittels , das er am Vormittag gekauft hatte: äußeres Einwickelpapier, inneres Einwickelpapier, Zellophanhülle, Packung und eine mit einem Gummiring befestigte Gebrauchsanweisung = 37 Sekunden. "Mein Nervenverschleiß beim Auspacken ist größer als die Nervenkraft, die das Mittel mir zu spenden vermöchte."
In der Erzählung "Doktor Murkes gesammeltes Schweigen" ist Doktor Murke ein junger Mann, intelligent und liebenswürdig, der in einem Funkhaus arbeitet und genötigt wird, in einem bereits auf Band gesprochen Vortrag des großen Bur-Malottke wegen neuerlicher religiöser Bedenken desselben, das Wort Gott in einem Vortrag über Kunst durch "jenes höhere Wesen, das wir verehren" zu ersetzen. Das will jener große Bur-Malottke möglichst schnell hinter sich bringen, indem er diesen Satz so oft wie nötig auf Band spricht, selbstverständig hätten Doktor Murke und die Techniker die Bänder danach entsprechend zu ändern, zu schneiden und zu kleben.
Es ist eine Satire von Feinsten, welche Schwierigkeiten sich nun auftun, weil "jenes höhere Wesen" nur für Nominativ und Akkusativ gilt, im Genitiv durch "jenes höheren Wesens" und im Dativ durch "jenem höheren Wesen" ersetzt werden muss. Ebenso ergeben sich Schwierigkeiten bei dem Ausruf: Oh, Gott! Aus dem liebenswürdigen Doktor Murke wird im Studio ein liebenswürdiger Sadist. Mehr Wörter bedeuten eine längere Sendezeit, das bringt Bur-Malottke in weitere ungeahnte Zwänge. Die Heiterkeit im Technikraum bereitet auch dem Leser ein schadenfrohes Vergnügen.
Eine großartige Wendung nimmt die Geschichte zum Schluss, als die übrig gebliebenen Schnipsel mit dem Wort Gott zum Entzücken eines Hilfsregisseurs perfekt in ein Kurzhörspiel anstelle von langem Schweigen eingearbeitet werden können. Das an dieser Stelle herausgeschnittene Schweigen wiederum wird Doktor Murkes gesammeltes Schweigen um eine Minute verlängen, denn Schweigen ist selten und kostbar geworden.

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