160. Brigitte-Reimann-Spaziergang brachte einer Oldenburger Gruppe die Stadt der „Franziska-Linkerhand“-Autorin nahe.

Sonntagswanderer erkunden Hoyerswerda

Von Uwe Jordan

Angela Potowski und Helen Schmidt lesen an der Liselotte-Herrmann-Straße 20 vor der Gedenktafel für Brigitte Reimann und Siegfried PitschmannWunderliche Wege führen bisweilen nach Hoyerswerda – aber wer sie bewusst angetreten hat, bereut sie selten. Das trifft sicher auch auf eine Gruppe von rund 40 Oldenburgern zu, die gestern Gäste des 160. Brigitte-Reimann-Spazierganges des Kunstvereins Hoyerswerda auf den Spuren der „Hoyerswerda“-Autorin waren. Die Niedersachsen erfuhren von Leben und Zeit der Reimann – aus Tagebuch-Notizen und Texten der Schriftstellerin selbst; gelesen von Helene Schmidt und Angela Potowski; aber auch aus Anekdoten und Geschichtchen, erzählt von Helene und Martin Schmidt, die ja Brigitte Reimann in ihren Hoyerswerdaer Jahren von 1960 bis 1968 persönlich kannten und begleiteten.
Der Stadtbaurat gab den Anstoß
Die Oldenburger Gäste sind „Sonntagswanderer“ im stolzen, seit 1859 bestehenden OTB, dem Oldenburger Turnerbund. Jeden zweiten Sonntag wandern sie. Aber einmal im Jahr wird eine große Ausfahrt unternommen, eine „Bildungsreise“. Die führte diesmal in die Lausitz, speziell nach Hoyerswerda. Zwei Männer ergriffen die Initiative. Zum einen Hans-Martin Schutte. Den ehemaligen Stadtbaurat (der Titel entspricht in etwa dem des Chef-Architekten von Hoyerswerda) des 160 000 Einwohner beherbergenden Oldenburg hatte die fachliche Seite der Angelegenheit Hoyerswerda interessiert: die Architektur. Hermann Henselmann. Der Star-Architekt des Hochhauses an der Weberwiese in (Ost-) Berlin (1951), wenngleich in manch Nöte mit der Staatsmacht verstrickt, war seinerzeit Gesprächspartner für Brigitte Reimann.
Briefwechsel mit Henselmann
Sie schrieb ihm am 11. Juni 1963 aus Hoyerswerda: „Lieber Herr Professor Henselmann ... Mir bereitet es physisches Unbehagen, wenn ich durch die Stadt gehe – mit ihrer tristen Magistrale, mit Trockenplätzen zwischen den Häusern, wo Unterhosen und Windeln flattern, mit einer pedantischen und zudem unpraktischen Straßenführung, die die Erfindung des Autos ignoriert ... Wahrscheinlich läßt sich in den fertigen Wohnkomplexen nichts mehr korrigieren, aber es müßte doch möglich sein, die Pläne für die nächsten Komplexe in irgendeiner Weise zu beeinflussen ... das Thema liegt mir auch deshalb am Herzen, weil mein nächster Held Architekt sein wird, und nun versuche ich von allen Leuten, deren ich habhaft werden kann, zu erfahren, wie weit die Architektur das Lebensgefühl ihrer Bewohner zu prägen vermag, und mir scheint, sie trägt in gleichem Maße zur Seelenbildung bei wie Literatur und Malerei, Musik, Philosophie und Automation.“ Henselmann antwortete zehn Tage später: „Liebe Frau Reimann ... Kann man nicht unsere sozialistische Heimat so gestalten, daß man nach ihren Städten Heimweh empfinden kann? Fragen über Fragen. Es wäre schön, wenn wir einander helfen könnten, eine Antwort zu finden ...“
Der Roman „Franziska Linkerhand“ wurde der Versuch einer Antwort-Findung. Schutte, dessen Mutter 1904 in Hoyerswerda (!) geboren worden war, besuchte vor drei Jahren allein diese Stadt: „Wir haben ja als Architekten nur den Bau von Städten erlebt, nicht aber den Rückbau. In Hoyerswerda habe ich erstmals den Abriss eines größeren Gebäudes gesehen – eine faszinierende Erfahrung.“ Ergo: Man sollte Hoyerswerda mit den Wanderfreunden sehen!
Im „Haus des Lehrers“
Ein Freund von ihm, Matthias Schachtschneider, wurde hellhörig: In seiner Zeit als Lehrer hatte er sich viel mit DDR-Literatur beschäftigt, 1977 auch die „Franziska Linkerhand“ gelesen. „Wenngleich das damals eher unter dem Blickwinkel der Emanzipation der Frau geschah.“ Mit Hermann Henselmann verband ihn das vom Architekten geschaffene „Haus des Lehrers“ in (Ost-)Berlin, in dem er zu DDR-Zeiten im Rahmen des Ost-West-Kulturaustauschs weilte – natürlich ging es um Literatur, Christa Wolf, Brigitte Reimann ... Jetzt, Jahre später, waren die Erinnerungen wieder da; die Begeisterung für eine Hoyerswerda-Fahrt geweckt. Schachtschneider bereitete ein Referat zu Brigitte Reimann, deren Vita ihn begeisterte, vor. Die Tour konnte beginnen. Nach Schachtschneiders Referat am Sonntag gab’s gestern besagten Reimann-Spaziergang, der am ehemaligen Wohnhaus der Literatin an der Liselotte-Herrmann-Straße 20 begann und nach Lesungen von Textpassagen an Originalschauplätzen am Brigitte-Reimann-Denkzeichen im Zentralpark endete.
Dann fuhr die Oldenburger Gruppe ins Kraftwerk Schwarze Pumpe, das ja auch auf historischem „Brigitte-Reimann-Boden“ steht. Am Abend war noch ein Abend zu Kultur und Leben der Sorben geplant, ehe heute die Lausitz-Tour nach Kromlau weitergeht. Doch vielleicht zieht es den einen oder anderen Oldenburger ja noch einmal nach Hoyerswerda zurück.

 

 

Kunstverein vermittelt Gästen ein authentisches Bild vom Hoyerswerda der Vergangenheit und der Gegenwart

Von Katrin Demczenko

Angela Potowski liest an der ehemaligen Gaststätte "Glück Auf" Texte von Brigitte ReimannVon 2002 bis heute hat der Hoyerswerdaer Kunstverein 160 Mal Menschen aus Deutschland und der Welt auf dem Brigitte Reimann-Spaziergang durch "die Stadt der 'Franziska Linkerhand'" geführt. Immer wieder zeichnen seine Mitglieder in ehrenamtlicher Arbeit ein authentisches Bild der Aufbauzeit von Hoyerswerda-Neustadt nach, so wie sie Brigitte Reimann in den 1960er Jahren miterlebt und mitgestaltet hat. Die Gäste hören in erster Linie Texte der Autorin an ihrem ehemaligen Wohnhaus im Wohnkomplex 1, in der vom Verein betriebenen Reimann-Begegnungsstätte und an anderen authentischen Orten. Die Begegnungsstätte hat den Grundriss der Originalwohnung des Schriftstellerehepaares Brigitte Reimann/ Siegfried Pitschmann und das Wohngefühl von damals wird durch die Ausstattung der Räume mit Möbeln der Zeit nachempfunden, sagte Kunstvereinsmitglied Helene Schmidt.

Gestern besuchten 38 Mitglieder des Oldenburger Turnerbundes auf ihrer diesjährigen Wanderfahrt durch Cottbus, Senftenberg, Luckau und Calau auch Hoyerswerda. Hier wollten sie ihr theoretisch erworbenes Wissen über Brigitte Reimann mit der Realität der Neustadt vergleichen. Ein Gruppenmitglied, der ehemalige Stadtbaudirektor Hans-Martin Schutte war über die Beschäftigung mit dem bekannten DDR-Architekten Hermann Henselmann auf Autorin gestoßen. Nun wollte er Hoyerswerda kennen lernen, die Beispielstadt für den großen Roman "Franziska Linkerhand". Brigitte Reimann, deren intensive Kontakte zu Henselmann und der Aufbauleitung der Neustadt in das Buch eingeflossen sind, wollte eine lebenswerte Stadt mit Begegnungsmöglichkeiten für alle Bürger schaffen, erklärte der Kunstvereinsvorsitzende Martin Schmidt. Der jetzt stattfindende großflächige Rückbau in Hoyerswerda schockiert den ehemaligen Stadtbaudirektor Schutte, der solche Probleme in Oldenburg nie lösen musste. Er würdigte alle Menschen der Lausitz, die die Wandergruppe bisher geführt und ihnen kenntnisreich Einblicke in das Leben der Region gegeben haben.
Der pensionierte Oldenburger Deutschlehrer Matthias Schachtschneider hatte schon 1977 "Franziska Linkerhand" gelesen, für ihn eine Initialzündung zur Beschäftigung mit ostdeutscher Literatur. Er las Bücher von Hermann Kant, Christa Wolf und anderen, nahm an Seminaren des "Ministeriums für gesamtdeutsche Fragen" teil und besuchte das von Hermann Henselmann projektierte "Haus des Lehrers". Diese Kontaktmöglichkeiten in die DDR seien durch die Politik des Bundeskanzlers Willi Brandt entstanden, erklärte Matthias Schachtschneider. In den 1980er Jahren integrierte er sogar DDR-Literatur in den Deutschunterricht und nach 1989 folgten viele Wanderfahren mit dem Oldenburger Turnerbund in den Osten Deutschlands. Immer reist dabei die Frage mit, wie Menschen in der DDR gelebt haben, erzählte er. Auch in Hoyerswerda habe er diesbezüglich authentische Auskünfte bekommen und zeigte sich "tief beeindruckt von der Erinnerungsarbeit, die der Kunstverein seit vielen Jahren leistet".

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