Erinnerung als Dialog zwischen den Zeiten

Dr. Wolfgang Wessig, Görlitz, stellt den jungen polnischen Autor Piotr Pazinski (*1973) vor und seinen Roman "Die Pension".

Dr. Wolfgang Wessig liest beim Hoyerswerdaer Kunstverein. 2015

Wir Deutschen tun uns noch immer schwer, die Literatur anderer Länder und Sprachen mit Neugier und Anerkennung zu entdecken, wir kommen ja aus dem Land der "Dichter und Denker". Einer, der dagegen sehr neugierig und klug seit vielen Jahren die Literatur der Nachbarländer studiert und mit Begeisterung und fundiertem Wissen im Hoyerswerdaer Kunstverein vorstellt, ist Dr. Wessig aus Görlitz. Das Gespräch am Schluss des Abends mit den Zuhörern zeigte das rege Interesse an seinen literarischen Grenzgängen.
Bei den Recherchen der polnischen zeitgenössischen Literatur fällt ihm auf, dass hier von sehr jungen Autoren beachtliche Bücher geschrieben werden, wie eben von Piotr Pazinski, der für seinen ersten Roman "Die Pension" 2012 den Literaturpreis der Europäischen Union erhielt.
Pazinski erzählt, wie ein junger Mann heute in ein Ferienheim reist, das ehemals eine Pension war, die für ihn voller Erinnerung zu sein scheint und die ihn mit "Nebel empfängt, der über den Bäumen hängt und alles umfängt mit der kühlen Berührung seiner unsichtbaren Tropfen". Dieses unsichtbare Berühren setzt sich im Roman fort, alle Erinnerungen sind noch da, umfangen ihn aber nur undeutlich, er muss bleiben und warten, dass sich der Erinnerungsnebel allmählich lichtet. So entsteht ein wunderbares Zeitgemälde, wobei der Leser fast glaubt, dass er am Erinnern mithilft.
Die Pension sieht heut noch fast so aus damals, als er als kleiner Junge hier bei der Großmutter, die sich um Pension und Feriengäste kümmerte, viel Zeit verbrachte, zwischen Verwandten und Gästen, die immer hier waren. Die Tage waren laut und lebendig, angefüllt mit den immer gleichen Debatten und Zankereien der Gäste untereiander. Nun kommt er zurück in eine Welt, die still ist und wie ausgestorben scheint, nur der Geruch ist geblieben. Die wenigen Gäste, die noch hier sind, nimmt schon heute keiner mehr wahr, eine leere verlorene Welt. 
Piotr Pazinski schiebt nun die Zeitschichten ineinander; die Zeit, die er aus Erzählungen kennt, eine Zeit vor dem Krieg, als in dieser Pension mondäne Gaste zur Sommerfrische kamen und jüdisches Leben herrschte, in einem eleganten Haus mit zierlichen Balkonen und einem extravaganten Speisesaal. Dazwischen schiebt sich immer wieder die Zeit während des Holocaust, überschattet von Angst und Ungewissheit, denen später Gewissheit folgte über Tod und Ausrottung. 
In einer Zeit danach war die Pension noch immer bewohnt, bewohnt von den wenigen, die noch im Land waren. Man fragte sich in heftigen Debatten wie eh und je: Weshalb haben wir dennoch überlebt? Reichte die Zeit nicht aus, weil wir zu viele waren? War es Zufall? Waren Gott oder der Teufel im Spiel? Diese Zeit erlebte der Junge, der nun zurück kommt und heute eine neue Leere erfährt, weil die jungen Leute weggehen in alle Welt, weil sie für sich hier keine Zukunft sehen. 
Das Wissen um dieses jüdische Leben wird verloren sein, wenn er sich nicht erinnert, denn "die Spuren der Menschen verlieren sich schnell, wie Staub, der vom Wind aufgewirbelt wird". Doch wie soll er sich erinnern, wenn alles in einem dichten Nebel verborgen scheint? Helfen werden ihm dabei Tante Tecia und Tante Mala, die sind noch da. Mala ist zwar keine große Hilfe, da sie schon etwas verwirrt ist, dafür umso mehr Tecia. Sie besitzt neben aufbewahrtem Trödel und alten Zeitungen einen Schatz, eine Schachtel mit Fotos und Briefen aus dem Nachlass der Großmutter, die auf ihn förmlich gewartet haben. Hier ist eine weitere Zeit jüdischen Lebens aufbewahrt, das Lebens von Großmutter und Großvater vor der "Pension". Dieser Schatz wird nun zum Ausgangspunkt des Erinnerns an jüdisches Leben, an Bräuche und Lebensart, an eigenwillige Charaktere und Zeitenläufe über ein ganzes Jahrhundert.
Sehr feinfühlig und genau ist dieser Roman angelegt, mit vielen poetischen Sprachbildern und herrlichen Dialogen. Allein ein Gespräch zwischen der leicht verwirrten Mala und der noch rüstigen Tecia über den jungen Mann, der da gekommen ist, kann anschaulicher nicht beschrieben werden. Vorzüglich von Dr. Wessig gelesen, wird dieser Dialog zum Bühnenstück. Die Neugier ist geweckt, den Roman ganz zu lesen.

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