Geoffrey Chaucers „Canterbury-Erzählungen“ -Das Gegenstück zum Dekameron

Liebe Mitglieder und Freunde, sehr geehrte Damen und Herren,
Am Donnerstag, dem 29. Oktober 2015, um 19 Uhr  stellt Uwe Jordan im Schloß den englischen Autor Geoffrey Chaucer und dessen Werk vor. Dieser folgt humorvoll zeitnah bis heute seinem Vorbild Giovanni Boccaccio.

Werner Klemke schuf Illustrationen zu  Geoffrey Chaucers „Canterbury-Erzählungen“Um dreizehnachtzig war‘s, ein Frühlingstag,
als ich in einem schönen Gasthof lag,
bereit, zu gehn mit andachtsvollem Sinn
zum heilgen Tom nach Canterbury hin.
Am Abend langte dort beim Wirte an
ein muntres Völkchen, neunundzwanzig Mann,
verschiedne Leut nach Herkunft und nach Sitten,
die alle auch nach Canterbury ritten.
Und da die Reise lang, der Weg sehr weit,
verkürzt‘ man mit Geschichten sich die Zeit.
Von Abenteurern konnt man da erfahren,
von Mönchen, die den Fraun nicht abhold waren,
von züchtgen Jungfern, die verführt im Schlafe,
von Bösewichtern und von ihrer Strafe. –
In diesem Buch nun will ich euch berichten
von einigen der lustigsten Geschichten,
ich, Geoffrey Chaucer aus Alt-Engelland,
und Meister Klemke ging mir treu zur Hand.“

So beschreibt der Klappentext des 1979 in vierter Auflage bei Rütten & Loening erschienenen Buches „Geoffrey Chaucer – Canterbury-Erzählungen“ recht hübsch und im Stil des Meisters das Anliegen jenes Geschichten-Reigens, den Geoffrey Chaucer von 1387 bis 1400, bis zu seinem Tode schuf.
Chaucer (etwa 1340-1400) und William Shakespeare (1565-1616) gelten als die Gipfel der englischen Dichtkunst, vielleicht auch John Milton (1608-1674), dessen „Paradise Lost“ (Das Verlorene Paradies) heute wenigstens Kennern noch ein Begriff ist. Shakespeare ist ja eh in aller Munde. Doch Chaucer? Er ist fast vergessen. Warum eigentlich? „Was Chaucer vor allen anderen Dichtern der Welt als ersten auszeichnet, ist sein liebenswürdiger Humor und seine ganz modern anmutende realistische Darstellung alltäglicher Personen, Sachen und Geschehnisse“, befindet Martin Lehnert im Vorwort des bereits erwähnten Rütten-&-Loening-Bandes. „Er besaß die Fähigkeit, die Widersprüche, Verschrobenheiten, Fehler und menschlichen Unzulänglichkeiten deutlich zu erkennen und sie mit verständnisvollem, oft geradezu liebevollem Humor zu behandeln. In den Fällen aber, wo seine Mitmenschen und die Zustände seiner Zeit das Gemeinwohl gefährden, greift er zur Satire. Chaucer beherrscht alle Mittel der komischen Darstellung, wirkt aber bei aller Derbheit und Keckheit seiner Zeichnung, besonders des Verhältnisses beider Geschlechter, nie schlüpfrig, obszön oder morbid.“
Chaucer lässt also in den „Canterbury-Erzählungen“ im Londoner Gasthaus „Zum Heroldsrock“ eine Gemeinschaft von Pilgern unterschiedlichsten Standes zusammentreffen, die verabreden, sich den Weg von und nach Canterbury durch Geschichten-Erzählen zu verkürzen. Der Wirt führt den Zug, und der Dichter Chaucer schließt sich ihm an, sodass es 30 Personen sind, die auf dem Hin- und Rückweg jeweils zwei Geschichten erzählen sollen. Insgesamt 120 Geschichten hat Chaucer also geplant; überliefert sind aber nur 21 vollendete und drei Fragmente. Nur ein Bruchteil dieses großartigen Reigens ist auf uns gekommen – vielleicht auch das ein Grund, warum Chaucer heute fast vergessen ist und dagegen Giovanni Boccaccios (1313-1375) ähnlich angelegtes „Dekameron“ (1348-1353 geschrieben) sich ungebrochener Beliebtheit erfreut. Der Italiener Boccaccio lässt vor der Pest geflüchtete Paare sich die Zeit im Exil mit ebensolchem Geschichten-Erzählen verkürzen, aber Chaucers Ansatz ist ungleich wirkungsvoller, geschickter und lebensnäher – nur eben unvollendet. Darüber hinaus hat Chaucer nicht Prosa geschrieben, sondern fünfhebige Verse (jambische Fünftakter), paarweise gereimt. Seine Sprache war das Mittel-Englische, das sich gegenüber dem Neu-Englischen (das Shakespeare unter Aufgabe des Reims benutzte) leichter ins Neuhochdeutsche übertragen ließ – ein zusätzliches Vergnügen.
Gewiss sind die meisten Stoffe keine Erfindungen von Chaucer, sondern er folgte dem, was der bereits zitierte Martin Lehnert so zusammenfasst: „Es war in den früheren Jahrhunderten nicht die Aufgabe eines Dichters oder Erzählers, Stoffe neu zu erfinden, sondern bereits vorhandene mit allen Mitteln der Sprachkunst zum Zwecke der Unterhaltung und Belehrung zusammenzutragen und eindrucksvoll zu gestalten.“ Als Kronzeugen dafür benennt er Goethe, der in einem Gespräch mit Eckermann am 12. Mai 1825 über sich äußerte: „Man spricht immer von Originalität, allein was will das sagen! So wie wir geboren werden, fängt die Welt an, auf uns zu wirken ... Was können wir denn unser Eigenes nennen als die Energie, die Kraft, das Wollen! – Wenn ich sagen könnte, was ich alles großen Vorgängern und Mitlebenden schuldig geworden bin, so bliebe nicht viel übrig.“
Freuen wir uns also an den Versen von Chaucer, die er dem Bettelmönch, dem Büttel, der Frau aus Bath und dem Müller in den Mund legt. Wer sich anregen lässt, mehr von Chaucer zu hören, zu lesen und zu sehen, dem sei der erwähnte Band mit acht „Canterbury-Erzählungen“ anempfohlen, der zur Zeit leider nur antiquarisch zu bekommen ist, aber die Mühe des Erwerbs doppelt lohnt durch die zweifarbigen Illustrationen von Werner Klemke.
Alle Freunde der Literatur und des geistvollen Humors sind herzlich willkommen. Mit freundlichen Grüßen von Uwe Jordan und Martin Schmidt

 

Wir nutzen Cookies auf unserer Website. Einige von ihnen sind essenziell für den Betrieb der Seite, während andere uns helfen, diese Website und die Nutzererfahrung zu verbessern (Tracking Cookies). Sie können selbst entscheiden, ob Sie die Cookies zulassen möchten. Bitte beachten Sie, dass bei einer Ablehnung womöglich nicht mehr alle Funktionalitäten der Seite zur Verfügung stehen.